Mit dreizehn färbte ich mir meine Haare erstmals mit rotem Henna und glaubte, mit diesem Akt endlich auch meine Persönlichkeit gefunden zu haben — bis ich irgendwann in die nächste Identitätskrise stolperte. Zwei Anekdoten über das Haarefärben und die Suche nach mir selbst.
Sommer 2011
Am Badewannenrand laufen blutrote Rinnsale entlang, ständig kommen neue hinzu, während ich mir die hellrote Farbe aus den Haaren wasche. Neben mir reibt eine Freundin ihr Haar mit einem billigen Blauschwarz aus der Drogerie ein. Irgendwann habe ich sie aus den Augen verloren, diese Freundin, weil das manchmal eben passiert, wenn das Leben dazwischen kommt und sich neue Menschen hineindrängen. Auf dem vollgetropften Waschbecken stehen zwei verklebte Gläser und auch wenn ihr Inhalt schon längst nicht mehr da ist, riecht es noch immer nach der süßlichen Schlammbowle, die wir eine Stunde zuvor aus Eiscreme und reichlich Sekt mischten. Ich schaue in den Spiegel und weiß schon jetzt, dass meine Haarfarbe fleckig geworden ist. In meinem betrunkenen Kopf ist mir das aber egal, genauso wie jene Person, die mich einige Wochen zuvor mit den Worten „Ich habe meine eigenen Probleme“ abservierte, nachdem ich ihr von meiner Essstörung erzählt hatte.
Mein leuchtend rotes Haar jedenfalls läutet heute eine neue Ära ein. Eine, die sorgenfrei und wild und rebellisch ist — so wie es mit Anfang 20 eben sein sollte. Das habe ich mir fest vorgenommen, so wie ich mir immer etwas vornehme, wenn ich ganz plötzlich nicht mehr weiß, wer ich eigentlich bin. Meist stehe ich dann irgendwann in einer Drogerie und halte eine billige Haarfarbe in der Hand, weil ich ganz fest daran glaube, sie könne wirklich etwas ändern. Und oftmals tut sie das sogar. Zumindest, wenn man daran glaubt, irgendwelche Pigmente könnten auch einen Teil der Erinnerungen, mindestens aber alte Denkmuster übertönen. Heute jedoch fühlt es sich wirklich so an, als hätte ich einen Teil von mir wiedergefunden. Jenen, der auf der schier endlosen Suche nach mir selbst in Vergessenheit geraten war, obwohl ich ihn doch eigentlich gerade erst so gebraucht hätte, um tatsächlich mal so mutig zu sein, für mich selbst einzustehen. Mit meinem roten Haar jedenfalls fühle ich mich furchtlos und unbeschwert. Als uns an der Straßenbahnhaltestelle auch noch ein Punk-Pärchen Komplimente zu unseren unperfekten Haarfarben macht, merke ich, wie die Euphorie in mir aufsteigt. Ihren Höhepunkt erreicht sie nur noch, als meine Freundin und ich wenige Stunden später auf irgendeinem Open Air Festival in der Innenstadt zu Milows „You don’t know“ im Regen tanzen. Ich muss lächeln, während ich in schiefen Tönen mitsinge und mir rote Farbe auf die Schultern tropft: Verdammt, dieses Leben kann doch wirklich schön sein.
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Frühling 2020
Ich stehe gebeugt über der Badewanne und schaue dem Wasser dabei zu, wie es sich in kleine schlammfarbene Sturzbäche verwandelt, während es von meinem Kopf herunterläuft. Warum genau ich ausgerechnet zu Schwarz greifen musste, weiß ich nicht, vielleicht, weil es mir als eine der radikalsten Veränderungen, die sich mit möglichst wenig Aufwand erzielen ließ, erschien, vielleicht aber auch, weil ich sie gerade jetzt ganz dringend brauche, diese Abgrenzung von allem. Vor den Türen herrscht der Beginn einer Pandemie, vor die Tür selbst soll man im besten Fall aber gar nicht erst gehen — 2 Meter Abstand und möglichst wenig Kontakt zu anderen Menschen. Meiner sozialen Phobie kommt das gelegen, längerfristig gesehen macht es das natürlich bloß noch schlimmer. Längerfristig gesehen ist mir das aber auch egal, wie so oft, wenn ich einem meiner Impulse folge, weil ich plötzlich glaube, sie würden alles besser machen oder aber — wie heute — mir zumindest dabei helfen, meine Identität zu finden. Mit einer neuen Haarfarbe jedenfalls funktioniert das kurzfristig gesehen ziemlich gut, das habe ich während all meiner merkwürdig verwirrenden Identitätskrisen gelernt. Da kam es schon mal vor, dass ich mir das Haar Schokobraun färbte, weil ich glaubte, somit mysteriös und entschlossen zu wirken, oder meine Spitzen in pinke Farbe tunkte, um zu beweisen, dass ich über den Dingen stehe und mir nicht länger den Kopf über Nichtigkeiten zerbreche. Auf den großen Durchbruch, der mich über viele Jahre trägt, warte ich allerdings noch, denn länger als ein paar Wochen oder Monate hielten meine Farbausbrüche nie an. Heute versuche ich es also mit Schwarz und hoffe insgeheim, mit 30 endlich mal herauszufinden, wer ich eigentlich bin.
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Winter 2020
Natürlich hielt auch das Schwarz nicht an, obwohl ich zugeben muss, dass es mir zuletzt fast schon ein Gefühl von Vertrautheit gab, als ich in den Spiegel blickte. Neuerdings aber fühle ich mich nach Kupfer, zumindest wenn es nach der Farbe auf meinem Kopf geht. Ein wenig liegt es wohl an meiner allgemeinen Stimmung, die zuweilen einer Achterbahnfahrt gleicht, so sehr schwankt sie. Ja, vermutlich könnte man mir meine Launen und Gedanken sogar an meiner Haarfarbe ablesen, fast so, als sei sie ein Stimmungsring. Es gibt Menschen, die haben sich in ihrer Haarfarbe gefunden, weil sie selbst bei sich angekommen sind. Da sprechen manche etwa davon, sie seien im Herzen schon immer eine Blondine gewesen oder färben sich den Schopf bis an ihr Lebensende Schwarz, weil es ihrer Persönlichkeit entspricht. Was genau meiner Persönlichkeit entspricht, weiß ich nicht. Vielleicht ist es auch bloß ein Gemisch aus allem, vielleicht werde ich es aber auch erst erfahren, wenn ich alt bin, mit weißem Haar aus dem Fenster blicke und mehr über das Leben weiß, als ich es heute tue — bis dahin begebe ich mich weiterhin auf die Suche. Nach mir selbst und nach einer Haarfarbe.