Wie oft habe ich diesen Satz gesagt oder geschrieben: „Melde dich, wenn du zu Hause angekommen bist“. Und wie oft habe ich ihn von meiner Schwester oder Freundinnen gehört. Und wie oft musste ich mich mit meiner Mutter darüber streiten, dass ich den 20-Minuten-Weg zwischen der nächstgelegenen U-Bahn-Station und dem Haus meiner Eltern in Herne laufen will – nachts –, statt meine Eltern anzurufen und von ihnen abgeholt zu werden. Bei meinem letzten Heimat-Aufenthalt hatten wir, mal wieder, eine Diskussion darüber. „Es ist total unnötig, dass du mich nachts an der U-Bahn-Station abholst“, schäumte ich, und fühlte mich nicht wie eine Frau Anfang 30, sondern wie ein Teenager. „Aber wenn du läufst, musst du am Feldweg entlang“, sagte meine Mutter, „und das ist unsicher.“ Ich verdrehte die Augen und erklärte ihr genervt, dass Gewalt gegen Frauen in den allermeisten Fällen im direkten sozialen Umfeld passiert, dass also die Vorstellung von einem Fremden, der aus dem Gebüsch springt, unrealistisch ist.
Natürlich setzte sich meine Mutter am Ende durch und ich saß grummelnd bei einer Freundin an ihrem Bochumer Küchentisch, darauf achtend, dass es nicht zu spät wurde, schließlich würde meine Mutter mich in Herne abholen und ich wollte sie nicht aus dem Schlaf klingeln.
„Melde dich, wenn du zu Hause angekommen bist.“ Die Londonerin Sarah Everard hat sich nicht gemeldet, als sie sich am Abend des 3. März von einer Freundin verabschiedete und im Dunkeln den Nachhauseweg antrat. Denn die 33-Jährige kam nie zu Hause an: Sie wurde überfallen und ermordet. Der Verdächtige: ein Elite-Polizist. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn Sarah Everard trug einen auffälligen grünen Regenmantel, der Weg war gut ausgeleuchtet und sie sprach am Handy mit ihrem Freund.
Alles Faktoren die dabei helfen, einen Überfall, eine Vergewaltigung, zu verhindern. Zumindest wird das Mädchen und Frauen vermittelt: Dass es an ihnen ist, sich vor – sexualisierter – Gewalt zu schützen. Dass sie es selbst in der Hand haben, ob ihnen etwas passiert. Gehe lieber nur bei Tageslicht joggen. Wenn du nachts allein nach Hause läufst, halte deinen Schlüssel in der Hand, wie eine Waffe. Wenn du Menschen begegnest, gucke sie vorsichtshalber nicht an. Sorge dafür, dass immer jemand weiß, wo und mit wem du dich aufhältst.
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Trag besser kein zu kurzes Kleid, keinen zu knappen Rock. Sei möglichst unauffällig. Verzichte auf Kopfhörer und Musik, sonst hörst du nicht, wenn sich jemand nähert. Tu so, als würdest du am Handy mit jemandem sprechen. Meide bestimmte Gegenden in der Stadt. Melde dich, wenn du zu Hause angekommen bist.
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Sich nicht in Gefahr bringen
Die US-amerikanische Autorin Jessica Valenti nennt das den „rape schedule“: das Wissen, als Frau jederzeit angegriffen werden zu können, und der Versuch, dem entgegenzuwirken. All die kleinen und großen Dinge, die Frauen unternehmen, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Der Fall Sarah Everard zeigt mal wieder: Es ist eine Illusion, zu denken, dass Frauen sich vor dieser von Männern ausgehenden Gefahr schützen können. Unsere Vorkehrungen mögen uns den Eindruck vermitteln, dass sie uns zumindest ein klein wenig schützen. Tun sie aber nicht. Natürlich, generell ist es immer eine gute Idee, vorsichtig zu sein. Aber wir sollten es nicht sein müssen. Wir sollten als Mädchen und Frauen nicht ständig darüber nachdenken müssen, wie wir uns im öffentlichen Raum bewegen, und inwiefern unsere bloße Anwesenheit dort eine Provokation, eine Herausforderung, einen Anreiz darstellt. In einer Instagram-Story schrieb die irische Autorin Louise O’Neill: „Es fühlt sich an, als ob Frauen ihre Leben kleiner und kleiner gemacht hätten, um uns ‚abzusichern‘, und nichts hat sich geändert.“
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Was mal wieder die Frage aufwirft: Warum verdammt nochmal wird so viel Zeit und Aufwand darein investiert, Mädchen und Frauen beizubringen, sich vor Gewalt durch Männer zu schützen – anstatt Jungen und Männern beizubringen, Mädchen und Frauen gegenüber nicht gewalttätig zu sein?
Wie oft reagieren Männer gereizt auf diese Forderung.
Wie oft höre ich: „Männer werden auch Opfer von Gewalt!“
Das stimmt – und in den meisten Fällen werden Männer Opfer von Gewalt durch andere Männer. Doch das wird gerne ignoriert. Lieber konzentriert man sich darauf, Frauen zu vermitteln, die Verantwortung, sich vor potenzieller Gewalt zu schützen, läge bei ihnen. Also wählen Frauen nachts den längeren, aber besser beleuchteten, Nachhauseweg. Sie telefonieren beim Gehen. Sie sind aufmerksam. Und werden trotzdem angegriffen, belästigt, vergewaltigt. Im schlimmsten Fall werden sie ermordet, so wie Sarah Everard.
Kein willkürliches Verbrechen
Seit Everards Tod teilen in den sozialen Netzwerken hunderte von Frauen unter den Hashtags #ReclaimTheNight oder #Shewaswalkinghome ihre Erlebnisse mit Belästigung im öffentlichen Raum. Viele berichten von einem grundsätzlichen und permanenten Gefühl der Unsicherheit, wenn sie sich als Frauen dort bewegen. Auch Stimmen von trans Frauen, von muslimischen Frauen mit Kopftuch oder women of colour sind darunter, die zu Recht darauf hinweisen, wie viel unsicherer es für sie ist. Es geht nicht darum, Leid zu vergleichen. Es geht darum, zu sagen: Es ist schlimm für alle Frauen, aber für manche Frauen ist es noch schlimmer. Selbstverständlich gibt es auch die Stimmen, die Sarah Everard zumindest eine Teilschuld geben. Die danach fragen, warum sie überhaupt abends um halb zehn unterwegs war, warum sie kein Taxi genommen hat. Oder die davor warnen, dem Fall zu viel Bedeutung beizumessen – schließlich handele es sich dabei um ein willkürliches, zufälliges Verbrechen, und solche Dinge passieren eben. Sarah Everard sei die Ausnahme, nicht die Regel.
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Aber: Wie willkürlich kann ein Verbrechen an einer Frau sein, das in einer Gesellschaft geschieht, in der Gewalt gegen Frauen so weitverbreitet, so alltäglich und – man muss es leider sagen – normal ist? Sarah Everards brutaler Tod bewegt deshalb so viele Frauen, weil er an etwas tief in ihnen rührt. An das Gefühl: Das könnte ich sein. Sarah Everards Tod fühlt sich unmittelbar an, persönlich. Rein statistisch gesehen mag die junge Britin die Ausnahme sein, mag es eher selten vorkommen, dass eine Frau auf offener Straße von einem ihr fremden Mann angegriffen und ermordet wird. Trotzdem ist da dieses Gefühl: Das könnte ich sein. Das Gefühl von Müdigkeit, weil es so unglaublich anstrengend ist, sich als Frau ständig Gedanken darüber zu machen, wie man sich im öffentlichen Raum bewegt, und was man damit – ungewollt – ausdrückt.
Eine ganz normale
Frau Sarah Everard ist nicht die Ausnahme. Sie war eine ganz normale Frau, die nichts anderes tat, als nach Hause zu laufen. Sie war eine von vielen Frauen, für die sich das permanente Gefühl, in der Öffentlichkeit nicht sicher zu sein, auf die brutalste, endgültigste Art bestätigte. Sarah Everards Andenken zu wahren bedeutet deshalb nicht nur, darauf zu bestehen, dass der Täter bestraft wird. Sondern auch, ein System und eine Kultur herauszufordern und zu hinterfragen, in der Frauen – immer noch – die Verantwortung für Verbrechen gegeben wird, die von Männern begangen werden. In denen Frauen ihre Leben, wie Louise O’Neill schreibt, klein machen, so klein, ihr Verhalten kontrollieren und anpassen. Es auf die Reaktionen von Männern ausrichten. Und trotz der ständigen Gegenbeweise hoffen, dass das reicht. Dass sie sicher sind.