Neun Jahre ist es her, dass ich, frisch aus der Schule, meine erste Wohnung bezog, mitten in Berlin Wedding, mindestens grün hinter den Ohren, aber einer Sache sicher: Die Heimatstadt für immer (wenn nicht noch länger) hinter mir zu lassen. Zu staubig, nichts los und abgegrast. Bereit für neue, spannende Ufer der Hauptstadt war ich, so wie alle meine Freundinnen und so viele andere, die jedes Jahr nach Schule, Ausbildung oder Erststudium ihre Heimatstadt verlassen. Neun Jahre, diverse persönliche Krisen, ein unmöglicher Wohnungsmarkt, ein gekippter Mieterdeckel und eine Pandemie später, schaue ich mich bei jedem Heimatbesuch ganz genau um. Die Lebensqualität, die Familie so nah, alles sauber, alles ruhig. Aber hier leben? Nein danke — oder etwa doch?
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Lange Zeit haben wir damit verbracht, uns haarspalterisch von unserem alten Leben abzugrenzen. Was teilweise im Elternhaus gesagt und praktiziert wurde, habe ich lange nach meinem Weggang als absurd abgetan. „So viel Fleisch essen“, „so viel Autofahren“, „so viel über andere reden“, sprudelte es nur vor Abgrenzung aus mir heraus, um auch ja ganz penibel darauf zu achten, mir meine ganz eigene Illusion von unabhängigem Wertesystem und Regelwerk auszudenken. So sein wie zu Hause sollte lange Zeit erst einmal gar nichts, einfach aus Prinzip und ein bisschen aus Überzeugung. Vielleicht auch, weil ich mich nie über die Maßen mit meiner Familie identifizieren konnte, vielleicht weil ich mich erst abnabeln musste, um mich wieder anzunähern. Wie so viele meiner Freundinnen brauchte es ein ganzes Stück eigenes Leben, um wieder unkritischer und versöhnlicher nach hinten zu schauen. Und nach ein paar vergangenen Jahren sogar die Heimatbesuche zu vermissen.
Schleswig-Holstein. Was für ein sau-schönes Fleckchen Erde. Als seien zwei Meere nicht Grund genug dafür, das nördlichste aller Bundesländer gnadenlos abzukulten. So profitiere ich seit jeher von der Nähe zu Hamburg, zu Berlin, dem frischen Fisch, Urlaub in Dänemark und einem beinharten Durchhaltevermögen, wenn es um das Anbaden zu menschenunwürdigen Temperaturen geht. Dennoch: Jedes zweite Mal zu Besuch zu Hause winde ich mich zwischen Faszination und Abneigung. Mein altes Zuhause steht weder in einer Kleinstadt, noch ist es unschön anzusehen. Doch piefig ist es noch heute, ein gutes Restaurant suchen alle mehr oder minder erfolgreich an einen Samstagabend und mit einem einfachen Café brauche ich nicht anzufangen. All die Großstadtarroganz versucht in neun Jahren abzulegen und trotzdem noch etwas nachbehalten. Aber was soll ich sagen. Die Demographie fühlt sich relativ alt an, die Bordsteine sind um 19:00 Uhr hochgeklappt und ich sowohl fasziniert von der Ruhe als auch beängstigt von der Einsamkeit und dann auch noch der Frage so nah, ob es nicht früher oder später ohnehin kein Bedürfnis nach all den Möglichkeiten, all der Abwechslung der vielfältigen Hauptstadt gibt.
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Dass Berlin einen Ticken zu viel ist, erwähnte ich hier schon mehrere Male. Vor Corona, während Corona und auch heute. Und immer dann, wenn es ein guter Zeitpunkt war, wagte ich mich für genau die richtige Anzahl von Tagen in die Heimatstadt zurück. Die guten Tage. Zwischen den Jahren, wenn alle da sind. Über Ostern oder im Sommer, wenn die Ostsee ruft oder die leeren Freibäder oder die eine gute Eisdiele der Stadt und der gottverlassene Stadtpark.
Dann frage ich mich aufs Neue, welche Schnapsidee es war, damals wegzugehen und wie lange wohl jeder einzelne Mensch in der Ferne braucht, um irgendwann wieder das Altbewährte schätzen zu lernen. Ich habe die Zeit, in der sich Zurückziehen wie ein Rückschritt anfühlen würde, überwunden. Aber bin ich schon bereit für einen lebensverändernden Moment? Wann ist denn in Filmen eigentlich immer der Zeitpunkt, an dem Menschen ihre sieben Sachen packen, um einen Neuanfang zu wagen? Und ab wann weiß ich eigentlich, dass auch ich einen brauche?
Erst kürzlich las ich von einem gentrifizierten Dorf bei Berlin. Am Wochenende würden sich in Scharen Minis, SUVs und Retro-Volvos an der Landstraße sammeln, um eine umgebaute Gärtnerei, ein asiatisches Fusion-Restaurant oder ein hippes Café samt Siebträgermaschinen zu besuchen. Mitten in der Uckermark. Ist das denn zu glauben? Die armen Leute aus der Region können sich im sogenannten 13. Bezirk keine Häuser mehr leisten. Und ich habe beim Scrollen auf Instagram schon etliche Male gedacht, dass ich nun auch endlich all’ diese schönen idyllischen Orte besuchen mag. Ertappt. Es ist nichts Böses dabei, Brandenburg zu erkunden. Auch nicht, wenn einem dabei ganz Neukölln auf den Fersen ist. Aber bevor ich mich traue, endlich aufs Land zu ziehen, weil mir in Berlin allmählich der Kragen platz und bevor ich jedes Wochenende von einem Wochenendhaus, einem Ausflug in den Spreewald oder eben der Uckermark träume, warum dann nicht einfach dem den Rücken kehren, das seit mindestens 1,5 Jahren regelmäßig für Unmut sorgt?
„Trau dich!“, habe ich gedacht. „Wechsel den Stadtteil!“, habe ich gedacht. „Zieh ins Hipster-Dorf!“, habe ich gedacht. Doch in die Heimatstadt gehen, da wurde ich immer ängstlich. Aber wenn ich über die Familie nachdenke, über all’ die Zeit, die uns noch bleiben würde, diese Einfachheit des Seins, der verfügbaren Bürgeramtstermine, dem Brötchenholen ohne Schlange und einem Besuch im Park ohne irgendwem auf die Pelle zu rücken, da wurde mir dann doch warm ums Herz. Zum Abendessen bei Familie und Großeltern, ganz spontan an einem Sonntag? Was für ein Traum. Kurz abkühlen im Meer, ein ruhiger Sonntagsspaziergang. Schluss mit dem Träumen und vielleicht mal mit dem Planen anfangen. Wann ist es Zeit, zurück in die Heimat zu ziehen? Wie ihr seht, habe ich noch keine Antwort gefunden.