Kennt ihr das? Das Gefühl, Dinge oder Sätze oder eben ganze Bücher sofort rüber beamen zu wollen, zu denen, die man am meisten liebt? Damit sie bloß nichts verpassen und man selbst eben nicht nur alleine weiß, wie toll da gerade etwas ist?
So ging es mir zuletzt als ich „Werden sie uns mit Flixbus deportieren?“ von Mely Kiyak las. Der Titel ließe ja eigentlich vermuten, dass man zwischen diesen Buchdeckeln nur wenig zu lachen findet. Umso erschlagener war ich von der Wucht dieser Worte, von der absoluten Fuck-Off-Haltung der Autorin, der es, vielleicht gerade weil ihr Anliegen so sauwichtig ist, einen irrsinnigen Spaß zu bereiten scheint, mit dem verbalen Thermomix (mindestens! Die angewandte Sprachkunst hier ist absolut premium!) so richtig geschmeidigen Kartoffelstampf aus uns zu machen. Unbedingt lesen, lernen und ja, herzlich lachen.
Werden sie uns mit dem Flixbus deportieren?, Mely Kiyak, Hanser Literaturverlage, 2022
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Das ist Lin Hierse. Ihr solltet euch ihren Namen, ihr Gesicht, ihr Schreiben schleunigst merken, denn „Wovon wir träumen“, der erste Roman der ohnehin schon großartigen taz-Redakteurin und Kolumnistin, ist ein wahrlich phantastisches Werk geworden. Über, der Titel verrät es ja: Träume. Über chinesische und deutsch-chinesische Geschichte, über Tochterschaft, Familie, verschwimmende Grenzen und Generationen, über den Wunsch, ein anderes, ein neueres Narrativ für Migration zu finden; Träume an die Stelle von Traumata zu setzen. „Wovon wir träumen“ ist ein unglaublich feinfühliges Werk, wie eine Vase voll zärtlicher Bekenntnisse. Zu der eigenen Identität, die ein Schatz, aber auch eine große, endlose Reise ist.
„Wovon wir träumen“ von Lin Hierse, Piper Verlag, 2022
Spätestens seit ich Martin Scorseses Netflix Dokumentation „Pretend it’s a city“ über die einzige, die wahre Fran Lebowitz und ihre Lieblingsstadt sehen durfte, bin ich zu eine Art stillem Groupie geworden, das sich gelegentlich wünscht, ein bisschen mehr kettenrauchende „Fran“ zu sein. Diese Frau hätte wirklich niemand erfinden können, kein Literat und nicht die beste Drehbuchautorin der Welt. Was für ein unfassbares ein Unikat. Ihre Essay Sammlung „New York und der Rest der Welt“ ist ein leichter Genuss für zwischendurch, eine herrliche Satire auf das Leben (in der Großstadt), eine Aneinanderreihung spitzfindiger Beobachtungen, von Alltäglichem, von Menschen und der Gesellschaft. Komisch ist all das, im besten aller Sinne, aber immer auch provokant – wer in Fran jemanden sucht, der voll und ganz die eigenen Befindlichkeiten tätschelt, ist hier vermutlich gar nicht gut aufgehoben. Das ist es nämlich, was diese Person und auch dieses Buch ausmacht: Scharfe Kanten, spitze Pfeile, Sätze, an denen man sich als Leser_in reiben kann. Nur um am Ende vielleicht einmal mehr zu lernen, dass es Menschen gibt, die richtig spitze sind, obwohl sie gänzlich anders ticken.
„New York und der Rest der Welt“, Fran Lebowitz, übersetzt von Sabine Hedinger und Willi Winkler, Rowohlt Berlin, 2022
So unendlich viel Gutes hatte ich schon über Fatma Aydemirs „Dschinns“ gelesen, und ja, es stimmt alles. Wie müde war ich, als ich dieses Werk eines Abends in den Händen hielt, um nur schonmal kurz rein zu schauen. Um 3.17 Uhr in der Nacht fielen mir schließlich die Augen zu. Und schon ein paar Tage später wusste ich: Das hier ist groß. Eine Familiengeschichte von gesellschaftlichem Ausmaß, über die Alena Schröder sagt: „Ihr Sound hat eine Wucht, die abwechselnd ins Herz und in die Magengrube geht.“ Auch das stimmt. Man weint, man lernt, man fühlt und staunt (über Fatma Aydemir!). Sechs Protagonist_innen werden in „Dschinns“ ergründet, was sie fühlen, erleben, was sie verzweifeln und hoffen lässt. Die beiden Eltern Hüseyin und Emine Yilmaz einerseits und dann eben die Kinder, die selbst längst erwachsen sind: Sevda, Peri, Ümit und Hakan. Es geht um Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Und Verlust. Lest dieses Buch mit viel Ruhe. Die braucht es nämlich, auch, wenn mal eine Träne rollt.
„Dschinns„, Fatma Aydemir, Carl Hanser Verlag, 2022
Am 15. Dezember 2021 verstarb bell hooks, eine der ganz großen radikal intersektional, feministisch, antirassistisch und kapitalismuskritisch denkenden und handelnden und schreibenden Autor_innen dieser Welt. Die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin benutzte den Namen ihrer Großmutter als Pseudonym und schrieb ihn konsequent in kleiner Schrift. Ihr ursprünglicher Name war Gloria Jean Watkins.
»Männer können nicht lieben, wenn ihnen die Kunst zu lieben nicht beigebracht wurde. Es ist nicht wahr, dass Männer sich nicht ändern wollen. Wahr ist, dass viele Männer Angst vor Veränderung haben. Um lieben zu können, müssen Männer imstande sein, sich von ihrem Wunsch zu verabschieden, andere zu beherrschen.«
„Männer, Männlichkeit und Liebe“, dass im März auf deutsch erschien, habe ich ehrlich gesagt noch nicht ganz durchgelesen und trotzdem schon mehrmals verschenkt, weil alles, was ich bis jetzt erfahren habe, durch diese Mischung aus Wissenschaft und persönlicher Beobachtung, tatsächlich „zur Revolution der Werte und zum Abgesang auf traditionelle Männlichkeit“ aufruft, und an uns alle appelliert, „dem Ethos der Liebe zu folgen“. Da bin ich doch gern dabei.
„Männer, Männlichkeit und Liebe„, bell hooks, übersetzt von Daphne Nechyba, Elisabeth Sandmann Verlag, 2022