Ich weiß noch, wie mir irgendjemand ganz am Anfang meiner Buchhändlerausbildung „Sputnik Sweetheart“ von Haruki Murakami in die Hand drückte und ich aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen wollte. Bis zu jenem Augenblick hatte ich noch nie ein Buch in einer so melancholischen und poetischen Sprache gelesen, ein Buch in welchem so einzigartig über das Leben, die Liebe und den Verlust geschrieben wird und in welchem selbst völlig surreale Ereignisse total plausibel erscheinen. In den folgenden Jahren wurden als logische Konsequenz sämtliche Haruki Murakami Bücher verschlungen. Ein paar sogar mehrmals, stets mit einem Bleistift in der Hand, um die wertvollen Stellen auf keinen Fall wieder zu verlieren.
Glücklicherweise war die Murakami-Liebe damals weitläufig, so hatte man immer ein paar gute Freundinnen um sich herum, mit welchen die Begeisterung geteilt werden konnte. Irgendwann geriet der liebenswerte Japaner jedoch in Vergessenheit, für seine neuen (Sci-fi) Romane konnte ich mich irgendwie nicht mehr richtig erwärmen und ich war schon kurz davor die Akte Murakami unter „Jugendliche Schwärmerei“ abzulegen – bis vor zwei Wochen „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ das Feuer auf ein neues entflammte.
Der Protagonist in Murakamis neustem Werk ist, (wie könnte es auch anders sein) ein männlicher Einzelgänger Mitte Dreißig. Tsukuru Tazaki der sich selbst als belanglos und uninteressant wahrnimmt, lebt seit einem Jugendtrauma schweigsam, zurückgezogen und unaufgeregt als Bahnhofs-Ingenieur in Tokyo, bis er eines Tages Sara kennen lernt und erneut mit den Vorfällen aus seiner Jugend konfrontiert wird. Damals wurde er aus rätselhaften Gründen aus seinem ihm heiligen Freundeskreis ausgeschlossen – fünf Freunde die symbiotischer nicht hätten sein können. Vier von ihnen führten Namen von Farben: Blau, Rot, Schwarz und Weiß, nur Tazaki war farblos, eine Tatsache die ihn über Jahre hinweg quälen sollte. Sechzehn Jahre nach dem einschneidenden Ereignis unternimmt der Protagonist eine Reise in die Vergangenheit, um auf einmal völlig neue Sichtweisen auf die Geschehnisse in seiner Jugend zu erhalten.
Die vier Freunde, die er in der zehnten Klasse kennengelernt hatte, waren das Wertvollste, was er je besessen hatte. Aber auch sie waren ihm eher wie ein Geschenk des Himmels in den Schoss gefallen, als dass er sie aus eigenem Willen ausgewählt hatte. Und er hatte sie schon vor langer Zeit – und auch das nicht willentlich – verloren. Oder sie waren ihm genommen worden.
Die Geschichte des scheinbar farblosen Tazaki ist eine vielschichtige, melancholische und philosophische Erzählung übe Freundschaft, Liebe, Einsamkeit, Schuld und Trauer. Wie in seinen früheren Büchern verwendet Murakami einen sehr klaren und unprätentiösen Schreibstil, setzt viele Metaphern und Symbole ein, die mich steht’s ein wenig über die Tatsache ärgern lassen, der japanischen Sprache nicht mächtig zu sein. Ich bin überzeugt, dass die Sprachbilder des Autors in der Originalfassung noch viel poetischer erscheinen würden. Am meisten fasziniert mich jedoch Murakamis Talent seine Leser mit der Beschreibung von scheinbar nichtigen oder alltäglichen Dingen in den Bann zu ziehen. Die Kunst mehrere Buchseiten lang über das Einfahren von Zügen in einen Bahnhof zu schreiben ohne zu langweilen. Lieber Haruki Murakami, genau deswegen werde ich wohl noch bis in alle Ewigkeit für dich schwärmen
Haruki Murakami – „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“
Dumont Verlag, 2014