Über die Sache mit dem Alltagssexismus haben wir uns hier erst kürzlich ein bisschen ausgelassen. Die aus dieser Diskussion gewonnenen Erkenntnis war allerdings keineswegs vorhersehbar, denn überraschenderweise stimmte nicht jede unserer Leserinnen in den „Kenn ich, ist voll kacke wenn einem hinterher gepfiffen wird und all die doofen Bagger-Sprüche nerven auch“-Tenor ein (es ging damals um Männer, die offenbar in dem Glauben sind, wir empfänden deren schmalzig bis bitteren Annäherungsversuche auf offener Straße tatsächlich als schmeichelnd). Der Haken an der Geschichte: Nicht jeder Frau wird hinterher geflötet, sobald sie alleine den Späti kreuzt. Verständlich also, dass sich manch einer ob der Sexismus-Vorwürfe fragte, was denn nun eigentlich so schlimm daran sei, wenn man von Fremden „Komplimente“ kassieren würde. Freuen sollten wir uns.
Ähnlich kontrovers fielen und fallen die Reaktionen auf das jüngst veröffentlichte Video von Shoshana Roberts aus. Mit dem zweiminütigen Clip, in dem dokumentiert wird, wie oft die 24-jährige Amerikanerin im Laufe eines ganz normalen Tags mitten in New York belästigt wird, landete sie nämlich nicht nur einen millionenfach angeklickten Youtube-Hit, nein, sie heimste sich außerdem über zehn Morddrohungen und tausende Hass-Kommentare ein.
Die meisten der Männer, die sich beispielsweise auf Spiegel Online an der Diskussion beteiligt haben, verstanden das Problem erst gar nicht und äußerten sich mitunter wie folgt:
„Ich darf Frauen also keine Komplimente machen, seien sie noch so banal? Wow, ich dachte wir streben eine Gesellschaft der Gleichberechtigung und gemeinsamen Werte an.“
Sind also nicht die Männer und ihre Sprüche Schuld, sondern wir selbst, weil wir es ihnen nicht gleich tun?
„(…)Bezüglich des Typen, der hinter ihr her geht, würde ich von einer emanzipierten Frau erwarten, dass sie sich umdreht und dem Typen die Meinung geigt, und nicht das brave eingeschüchterte Mäuschen gibt. Ansonsten liegt das Problem m.E. eher in der Überempfindlichkeit, dass die Dame sich auch von normalen Blicken belästigt fühlt.“
Ähnlich abstruse Verteidigungsmaßnahmen hört man übrigens, wann immer es um sexuelle Belästigung geht: Mademoiselle hätte schließlich einen dezenteren Ausschnitt tragen können. Selbst Schuld, na klar.
„Sexismus? Machen wir das Leben zu einem Ort ohne Sex, gegenseitigem Begehren und Komplimenten. Willkommen in der Utopie der Geschlechtslosigkeit. Wunderbar. Oder einfach wieder den Stock aus dem A…. nehmen und ein bißchen entspannen.“
Pscht, Pscht. Tolle Brüste! Sexy Lady! Ich habe schon schönere Komplimente gehört, wirklich. Und sexuell begehrt werden möchte ich, man mag es kaum glauben, nur von meinem Freund.
„Normale Menschen wären froh, auch mal angesprochen zu werden…“
Angesprochen werden ≠ sinnlos angebaggert werden. Und was sind überhaupt „normale Menschen“?
„Wie geht’s, Hübsche?“, „Gott segne dich, Mami“, „Nett!““ Nein diese Barbaren! Hab mir das Video angeschaut und muss ganz ehrlich fragen: Ist das ein Scherz? Bis auf den Typen der 5 Minuten neben her läuft und den anderen der mit läuft und ein konsequnet auf sie einredet, war da ja wohl nix ach so schlimmes dabei.“
Nichts Schlimmes. Aber Nerviges, Unnötiges, Unangenehmes.
„Als Mann werde ich niemals von einer Frau angesprochen. Ist doch auch diskriminierend, oder?“
Wenn man es genau nimmt: Ja.
Was also ist das Fazit? Wo liegt der Unterschied zwischen einem Kompliment und einer Pöbelei? In manchen Fällen lässt sich diese Frage vielleicht nur mit der sozialen Herkunft des Absenders beantworten, oder? Der gut aussehende Charmeur im Blumenladen würde wohl viel seltener als unangenehmer Rüpel empfunden werden als der Jogginghosenträger vor dem Spätkauf.
Wer also hat nun Recht? Wir, die Frauen, die sich beschweren? Oder sind vielleicht sogar die Männer die wahren Opfer, weil man ihre Freundlichkeit verkennt? Ich glaube nicht. Denn an einem höflichen und aufrichtig gemeinten Kompliment hat sich zumindest in meinem eigenen Freundinnenkreis noch niemand gestört. An etlichen unangebrachten Herabwürdigungen im Deckmantel seltsamer Pseudo-Komplimente allerdings schon.
(Info: Hinter dem Film steckt außerdem die Organisation „Hollaback“, deren Ziel es ist, auf Alltagssexismus aufmerksam zu machen und ihn gleichzeitig zu bekämpfen.)
Danke für den Themen-Vorschlag, liebe Mila!