Ja, das Cover dieses Buches verrät es bereits: Wir haben es diesmal mit einem Uralt-Schinken aus dem Jahr 1936 zu tun – dafür aber mit einem höchst charmanten.
„Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ landete für gerade einmal 50 Cent in meiner Einkaufstasche und zwar ohne jegliche Erwartungen auf ein literaisches Meisterwerk. Bloß Titel und Buchdeckelinschrift machten mich ein wenig neugierig, denn schon zu Schulzeiten waren es zumeist die ungehobelten Lausbubmädchen, welche mir schnöde Nachmittage mit einem Mal in kleine Abenteuer verwandeln konnten. Mir stand der Sinn also nach leichter Kost, die mich vor meinem eigenen geistigen Erwachsenwerden schützen könnte. Irmgard Keun traf mit ihrem Jugendroman demnach genau ins Schwarze und beschert mir seither neckische Leseminuten.
Das kleine Mädchen im Buch, 1908 geboren und inzwischen etwa zehn Jahre alt, erzählt uns aus der Ich-Perspektive von ihrem Leben und allerlei Vorfällen während des Kriegsjahrs 1918. Ähnlich wie in „Extrem laut und unglaublich nah“ fesselt sie uns mit ihrem Sprachstil an jede einzelne Zeile und lässt tief in die kleine Kinderseele blicken. Rührend naiv, aber in jeder Sekunde sehr weise, steht sie uns gegenüber.
„Ich habe an unser Eichhörnchen gedacht, das gestorben ist. Es war so schön wie ein Zauber aus einem glänzenden Bilderbuch, und fröhlich war es und hat in meinen Haaren geturnt, und an einem Morgen war es auf einmal tot, weil es Kopierstift gefressen hat von meinem Vater seinem Schreibtisch. Ich wurde auch etwas tot danach und unsere Wohnung war ganz verändert, und nichts war mehr richtig schön“ – und wieder ein Buch, das mehr sagt, als dort eigentlich geschrieben steht.
Ein Streich reiht sich an den anderen, Abenteuer und Klassenbucheinträge. Die Eltern schimpfen, die Nachbarn sind bestürzt und bald darf niemand mehr mit dem zutiefst unterschätzten Mädchen spielen. Der Lesen merkt nämlich recht schnell, dass das arme Ding eigentlich niemandem weh tun mag, nein, bloß ist da ein riesiger Gerechtigkeitssinn, der aber zum Leidwesen der anderen ganz offensichtlich nach dem veralteten Schema „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ befriedigt werden will. Und: ein gigantisches Herz, das doch eigentlich alles richig machen will.
Wir fühlen uns zurück versetzt in die eigene Grundschulzeit, in selbst erlebte Anekdoten, die uns immer wieder an der geistigen Zurechnungsfähigkeit der Erwachsenen haben zweifeln lassen. Und langsam dämmert uns, dass der gute alte Hans-Joachim Kulenkampff recht gehabt haben könnte, als er sagte:
„Als Kind ist einem doch die Welt ziemlich klar – und wenn man stirbt, weiß man gar nichts.“
Hier lang geht’s zu Amazon.