Foto: Nike van Dinther
Das Leben könnte so bequem und einfach sein. Wenn man sieben Arme zum Aufräumen messi-mäßiger Schlafzimmer hätte und zwei Gehirne, die sich gegenseitig an Geburtstage, Namen, Nummern und schlaue Floskeln erinnern würden. Wenn man einen Bauch hätte, der aus süßer Zuckerwatte wohl verträglichen Möhrensalat macht und eine Blase, die nie voll wird. Wenn man immer das sagen würde, was meint meint, statt zu reden, bevor man denkt. Wenn man überhaupt viel geordneter und entschlossener wäre und sich nicht ständig fragen müsste: Was zum Teufel wäre, wenn.
Hätte, hätte Fahrradkette und wenn das Wörtchen wenn nicht wäre. Es gibt Phasen in jedem jungen Leben, in dem das marode Phrasenschwein überdurchschnittlich häufig gefüttert wird – morgensmittagsabends wird gejammert, manchmal geweint und immer verzweifelt. Unsere sonst so vitale Generation scheint vor der totalen Überforderung zu kapitulieren. Wir sind quieschfidel und munter, trainieren unsere Körper und verballern sinnlos Gedanken wie Rotgeld. Erst zermürbt die Frage nach dem passenden Brotaufstricht unsere Schädel, später wissen wir nicht, was wir anziehen sollen und schließlich bezweifeln wir, dass es überhaupt eine gute Idee war, aufzustehen. Denn wir begehen tageintagaus Morde. An Möglichkeiten, Chancen und Ideen. Der Zeiger der Uhr dreht sich immer schneller, das Ticken wird lauter und schreit nach Entscheidungen. In jeder Sekunde. Gehe ich rechts lang oder links, bin ich gut oder böse, lasse ich das Duschen heute ausfallen, weil ich gelähmt bin vor lauter Wahnsinn und Zukunftsillusionen. Probleme, nennt man das. Alltagsprobleme, Luxusprobleme und jeder nimmt sich vom großen Haufen seinen ganz persönlichen Anteil. Und das hat einen Grund. Wenn nämlich die wichtigste aller Fragen ganz unten in Hirn und Herz brodelt, eine Frage, die über alles entscheidet, aber nicht beantwortet werden kann, dann steckt der Kopf sich selbst in den Sand und verstrickt Gedankengänge zu gewaltigen Knoten, die immer knuddeliger und dicker werden, bis sie uns schließlich erschlagen. Damit das da unten nicht zum Vorschein kommt, damit der allergrößte Zweifel verteckt bleibt zwischen all der geistigen Scheiße: Will ich das, was ich mache, wirklich?
Foto: Nike van Dinther
Ich habe sie immer beneidet, diese ruhigen Fische im wirbelnden Meer, diese geerdeten Menschen mit Plan. In der Grundschule kauen sie während der Unterrichtszeit kein Kaugummi, halten sich an Regeln und sind niemals laut. Auf dem Gymnasium werden sie zu Stufensprechern oder Klassenstrebern, wollen, dass bloß niemand aus der Reihe fällt. Sie interessieren sich vielleicht für Wirtschaft oder Recht, schon mit 14 wissen sie, was die Welt für sie bereithält, sie wissen genau, was sie erreichen wollen und wo und wie und wann. Dann steckt das Abitur in uniformen Jeanshosen, sie beginnen zu studieren, tragen mit 25 Anzug und machen genau das, was sie immer wollten. Krass. Schon immer gewusst zu haben, was man will, und am Ende genau das zu bekommen. Das muss sich gut anfühlen, phantastisch, erfüllend. Unsereins kennt diese Befriedigung noch heute nicht. Bloß temporär, aber die Konstante fehlt. Irgendwo am Grund liegt sie, vermodert und mit Grünzeug bewachsen, nur ab und an fällt ein kleines Licht darauf und dann ahnen wir, dass es anders sein könnte.
Es gibt sie nunmal, die anderen Menschen, die, die so sind wie du und ich, die Umherirrenden, die Unsteten, die noch niemals wussten, was wohl aus ihnen werden wird und heute noch keinen Schimmer haben. Jeder macht und schafft nicht was, sondern einiges und alles macht Spaß, aber der Gedanke daran, dass all das nun für immer ist, treibt Schweißperlen auf feuchte Gesichter, Angst in klitschnasse Augen und Wut in den Bauch. Verkackt nochmal, woher sollen wir wissen, was uns in zehn Jahren glücklich macht? Wir leben hier und jetzt und fühlen und sehen und denken, aber was später kommt, das weiß doch niemand. Wieso zwingt man uns, Entscheidungen zu treffen, wieso müssen wir funktionieren und es ihnen gleichtun? Wir sind nicht rebellisch oder träge, faul oder wirr. Wir haben bloß Angst vor der Zukunft. Angst davor, alles falsch gemacht zu haben. Wir sind Zweifler, die größten. Denn was, verdammt, wäre wenn?
Foto: Nike van Dinther
Wenn wir nicht A, sondern B gesagt, nicht C, sondern D geknutscht, nicht E, sondern F studiert und nicht G, sondern H unsere Liebe gestanden hätten. Was wenn wir in I geboren wären und nicht in J, ein K wären, statt ein L, was wenn wir uns immer anders entschieden hätten? Dann wäre alles beim alten, alles wie jetzt. Das ist der Fluch und der Segen, alles in einem.
So ist das Leben, das Leben ist schön, nur wer wagt, gewinnt. Nichts ist sicher, nur der Tod, jede Entscheidung bleibt ein Massenmord an Möglichkeiten. Aber genau diese Entscheidungen machen aus Existenz Leben, aus klarem Wasser umhertanzende Sprudelblubberblasen. Wir alle zweifeln, fallen tief und stehen wieder auf, wir alle sitzen im selben, wackeligen Boot. Es ist egal, wie es ausgeht, es muss bloß weitergehen und wir ab und an neu anfangen. Kein Vertrag bindet uns an einen geraden Weg, gar nichts und niemand, wir allein sind es, die uns in enge Kisten packen und knebeln und quälen und wollen, dass immer alles richtig war. Es ist nicht schlimm, nicht zu wissen, was man will, nicht schlimm, sich Fehler einzugestehen. Was wäre bloß, wenn wir tatsächlich immer zur rechten Zeit exakt wüssten, was wir wollen? Dann würden wir uns selbst nicht mehr finden, Erlebnisse verkommen lassen, den Tellerrand nur aus weiter Ferne betrachten und ein verdammt langweiliges Leben fristen.