Derzeit zählt Deutschland knapp 2,8 Millionen Arbeitslose. In den USA sind es so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Bitterkeit dieser Realität scheint das französiche Magazin „Antidote“ jedoch nicht davon abzuhalten, derartige Lebensumstände als Inspiration für ein Modeeditorial zu verwursten. Styleite.com zeigt sich empört ob dieses taktlosen Umgangs mit traurigen, aber doch existierenden gesellschaftlichen Umständen. Zu Recht?
Die Modewelt kennt schon lange keine Grenzen mehr, Provokation gehört zum Alltagsgeschäft: Ob Kindermodels, denen mit viel Schminke und Lockenwicklern liebliche Gesichter von vermeindlich 20-Jährigen gezaubert oder „Dicke„, die unter dem Titel „Tons of Fun“ wie selbstverständlich zur Schau gestellt werden. Geschockt zu sein scheint von solchen Gradwanderungen so gut wie niemand mehr. „Abstumpfung“ sagen die einen, andere hingegen erklären den Umgang mit Extremen durch die vermeindlich herrschende Ideenlosigkeit in harmloseren Gefilden – es ist eben alles schon mal da gewesen. Muss denn aber immer noch die nächst mögliche Grenze überschritten werden? Muss immer alles radikaler werden, um noch herausstechen zu können? Offensichtlich. Denn über eine stinknormale Fotoserie hätten auch wir an dieser Stelle schließlich nicht berichtet – es scheint also aufzugehen, dieses Konzept.
Apropos Konzept: Werden Obdachlose vom „Gegenmittel“ Magazin mit diesen Bildern tatsächlich verpönt, wird ihr Stolz durch den Dreck gezogen? Wohlgesonnene werden nun mit dem Kopf schütteln und, wie immer, nach dem Sinn suchen. Der Sinn, der könnte zum Beispiel so aussehen: „Zeigen wir den weltfremden verblendeten Modegeiern doch mal, wie viel teure Kleidung wirklich taugt, nämlich gar nichts. Wenn du am Boden bist, dann wird dich auch Chanel nicht retten“. Oder: „Ja, seht ihr denn nicht die Kritik, welche sich durch jedes einzelne Bild zieht? Das Gegenüberstellen von Welten, von Werten und dem Lifestyle zweiter Schichten, die verschiedener nicht sein könnten?“ Die beabsichtigte Lächerlichkeit von Mode also? Gut möglich, dass die Verantwortlichen für diese Strecke mit dem sehr passenden Titel „Lost in Translation„, Creative Director Yann Weber und Stylist Belén Casadeval, das Schlammassel eigentlich mit guten Absichten ins Rollen gebracht haben. Bei mir prallen die beiden Herren allerdings gegen eine sehr skeptische Wand. Das Arbeiten mit Obdachlosen oder gar Alkoholkranken, so wie Muschi Kreuzberg es im Übrigen sehr provokant aber trotzdem mit Sinn und Zweck tut, ist nur dann angebracht, wenn die Protagonisten zu einer tatscählichen Wirklichkeit gehören, nicht, wenn ein paar professionelle Models, deren Tagesbudget jeglichen Obdachlosen-Traum übersteigt, bloß so tun, als hätten sie einen ziemlich dreckigen, harten Tag hinter sich. Das hier, das ist Effekthascherei, sonst nichts. Applaus, denn uns habt ihr damit auch gekriegt, liebes Antidode Magazin.
Infos und Bilder via Styleite & Fashion Gone Rogue via Antidode.