Die Sache mit dem Sozialstress.

06.02.2012 Allgemein, Leben
Fotos: Nike van Dinther

Existieren ist anstrengend, manchmal sogar lästig. Die Zeit hört niemals auf zu rasen und meistens überholt sie dich. Wegrennen gilt nicht. Bloß Vergraben, das ist ab und an erlaubt. Aber selbst dann, wenn du zwischen Wolkenkissen und Eiscreme vom Bett aus an die Decke starrst, passiert irgendwas Beschissenes. Urin in der Blase, Telefon-Lärm im Ohr – und alles, was du brauchst scheint viel zu weit weg.

Der Wecker klingelt und dein Herz rast im Takt. Langsam fängt es in deinem Hirn an zu rattern und aus vernebelten Gedanken wird Panik, wird Stress. Dein Kopf ist schwer und müde, will nicht mitkommen in den Tag, sondern weglaufen und vergessen – bis er sich die Beine bricht und am Boden liegt vor lauter Last. 13.00: Meike, 16.00: Lena und Abends noch Paul. Aus Vorfreude wird Verantwortung. Verabredungen zum Pflichtprogramm. Wie Abrissbirnen metzeln Termine durch deinen Alltag und legen sich wie schweres Geröll in deiner Magengrube ab. Verplanen, vertrösten, versetzen. Der Alltag pumpt Botox in deinen Körper, hält ihn aufrecht, bis er völlig gelähmt in der letzten Ecke des Wahnsinns steht. Liegen lernen, sagt man. Aber du kannst nicht mehr stehen.

Freitag, Samstag, Discodisco. Wer jung ist, muss das Leben genießen, die fetten Jahre sind jetzt und du bist mittendrin. An deinen Augen hängen rosa-dunkle Hautsäcke – wie einer dieser traurigen Hunde siehst du aus. Deine Arme sind schlapp, genau wie die Beine und alles ist taub. Als hätten die letzten Tage dir Strohhalme durch die fahle Haut gestoßen und alle Energie aus den Venen gesaugt. Aber egal. Bloß nicht schwächeln und niemanden enttäuschen. Sehen wir uns heute, du hast es doch versprochen, bitte lass mich nicht im Stich. Einfach mitmachen, sagst du dir. Du willst doch was erleben. Erst ein Anruf, dann zwei, dann hundert. Discodisco und du machst mit.

Neue Runde, neues Glück. Freunde von A, die B gar nicht kennt, irgendwelche Kollegen, und C schleppt dich mit. Bussi hier und Bussi da, lautes Gelächter, das aus dem Kehlkopf statt aus dem Herzen kommt. Sie reden ohne Luft zu holen, ohne Sinn und ohne Verstand. Neue Namen, neue Nummern aber kein einziges ehrliches Wort. Falsche Gesicher erzählen falsche Geschichten. Blablabla, vorwärts und rückwärts. Du willst dich umdrehen und schreien, dir die Ohren zuhalten. Aber dazu fehlt dir der Mut. Deine schweißnassen Hände umklammern das Bier, während du einen Schluck nach dem anderen nimmst. Kotzbröckchen sammeln sich in deiner Kehle und du weißt längst nicht mehr warum: Ist das Becks Schuld  oder all die Idioten? Durchhalten, sagst du dir. Man trifft sich doch immer zwei Mal im Leben.

Heute hast du frei, das erste Mal seit Wochen. Faul sein, in Eiscreme und Wolkenkissen versinken, Staubwedeln oder sonst was Absurdes könntest du tun. Dich endlich mal nur um dich kümmern – bis das Telefon zu schreien beginnt und dich aus all deinen Tagträumen reißt. A ist sauer, weil du dich seit Wochen nicht meldest, B hat Liebeskummer und C steht schon längst vor der Tür. Du entschuldigst dich, obwohl es keinen Grund dafür gibt, tröstest, obwohl dir vor Müdigkeit die Worte fehlen und kochst Kaffee, obwohl du allein sein willst. Es ist egal, wie sehr du dich verbiegst oder bemühst, du wirst es niemals allen recht machen können. – Und solange du nicht lernst, „Nein“ zu sagen, dir selbst am aller wenigsten.

14 Kommentare

  1. lisa

    „Du willst dich umdrehen und schreien, dir die Ohren zuhalten. Aber dazu fehlt dir der Mut. Deine schweißnassen Hände umklammern das Bier, während du einen Schluck nach dem anderen nimmst. Kotzbröckchen sammeln sich in deiner Kehle und du weißt längst nicht mehr warum: Ist das Becks Schuld oder all die Idioten? Durchhalten, sagst du dir. Man trifft sich doch immer zwei Mal im Leben.“

    das find ich quatsch, mit 20+ sollte man das ’nein-sagen‘ schonmal gelernt haben, find ich.
    ansonsten aber ein schöner artikel! (:

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  2. maria

    muss lisa recht geben. aber auch immer ehrlich sein ist auch nicht so das wahre. so auf leute kennenlernen bezogen. war im ersten jahr der uni immer ziemlich ehrlich und hab mittlerweile genau eine freundin da und der rest der leute die dabei sind halten mich wahrscheinlich für ziemlich unfreundlich und assi. das ist manchmal ganz schön doof, grade wenn die eine freundin, die echt ne gute ist, nicht da ist und ich mit dem rest dasitze und keinen zum quatschen hab. vor allem weil die leute von denen ich anfangs dachte, was labert ihr eig für ne scheiße??! und warum lacht ihr so falsch über jeden mist? vllt doch ganz nett sind und sich anfangs nur nicht getraut haben sie selbst zu sein.. bei freunden sollte man in wichtigen fällen nicht ehrlich sein und sagen hallo hab grade keinen bock auf dich, auch wenn a mich seit monaten wegen dem gleichen arschloch zuheult. denn das mache ich ja dann auch iwann wieder und möchte dass sie wenigstens so tut als ob sie zuhört. naja wie auch immer. auf jeden fall ein schöner text!

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  3. Ola

    Sehr schön geschrieben! Like it!
    Aber ich hoffe der Text spiegelt nicht 100 prozentig deine jetzige Lage und du sagst doch hin und wieder mal nein. Ich sehe in meinem Umfeld viel zu viele Leute die diesen Text unterschreiben könnten.

    Dann gibt es aber leider noch das andere Extrem, die die nie Ja sagen und nichts tun. Lethargie macht sich breit quasi als Gegenbewegung.
    Irgendwas in der Mitte der beiden Extreme wäre am besten aber da hinzukommen ist ein langer Weg.

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  4. Nike Wayne Artikelautorin

    danke für eure lieben kommentare. ich freu mir immer ein kleines loch in den bauch, weil es ja gar nicht so selbstverständlich ist, dass andere den eigenen gedanenwirrwarr mögen.

    und ola: keine sorge! meine texte sind weniger autobiographisch als eher ein spiegel von allem, was ich so mitbekomme von außen. klar, schon auch von mir selbst, aber mehr noch aus erzählungen, von freunden und allem klimbim.

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  5. Ann Kathrin Kubitz

    Das waren meine Sommerferien. Und ich hatte den Mut zu sagen „nee auf den Sche** hab ich keinen Bock mehr, ich will meine Wochenenden mit Museum, mit Kunst mit Lesen mit gammeln verbringen. Seitdem geht es mir (finde ich) besser. Vorgeworfen wird mir jetzt so n Mist wie „was ist mit dir los, du kapselst dich total ab, ich dachte wir wären freunde, neee so freunde die nurnoch depressiv zu hause hängen brauch ich nicht (seit wann ist auf arte ballet gucken depressiv? Oder nicht mehr in Diskos gehen weil man gaaaaaaaanz früh rauswill am sonntag um die besten Sachen beim Flohmarkt abzustauben???) ich glaub du musst mal zum psychologen, das kann doch net normal sein als teenager so zurückgezogen zu leben.“ bablalalaaaa. danke, dass du deinen text geschrieben hast und ich nicht die einzige bin, die solche termine mittlerweile auf die to-do liste schreibt, auf die auch die hausaufgaben, referate und so sachen wie zimmer aufräumen draufstehen und nicht auf die liste mit dem titel „schöne dinge“ da steht nämlich jetzt so zeug drauf wie „backen, dvd’s für sonntag ausleihen, neuen Badezusatz für Samstag kaufen“ stehen – echt schöne Dinge also. alles liebe, annka

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  6. Dealy

    Sehr, sehr schön. So habe ich mich auch mal gefühlt. Bis ich nein sagte. Nun habe ich vielleicht 10 % der Menschen in meinem Leben, doch sie sind echt.

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  7. Pingback: This is Jane Wayne – “Must Read”-Blogempfehlung « annablogie!

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