Ausstellungstipp: Saul Leiter Retroperspektive | Hamburg

Eine Ausstellung, die ihr euch dick im Kalender anstreichen solltet, ist die Retrospektive des Fotografen und Malers Saul Leiter! In den Deichtorhallen Hamburg gibt es mehr als 400 Arbeiten des Künstlers zu sehen und wir haben einmal vorbeigeschaut: Fotoarbeiten, die uns zum Träumen bringen – von Schwarzweiß- und Farbbildern, Modefotografien, die einst für Harper’s Bazaar, Esquire, Show, Elle, British Vogue, Queen oder Nova geschossen wurden, übermalten Aktfotos sowie seinen originalen Werke seiner Gemälde bis hin zu den noch nie präsentierten Skizzenbüchern.

Ganz besonders möchte ich euch den Teil der Ausstellung empfehlen, den er mit 20 Gemälden selber kuratiert. Eine Hommage an die New Yorker Künstlerin Soames Bantry, die über 40 Jahre lang seine Liebe und Muse war, bis sie 2002 starb. Seine Worte faszinieren mich noch jetzt: In Gedanken an sie und die gemeinsame Zeit mit ihr habe er gelernt, dass törichtes Benehmen das Tor zum Träumen wäre…

 

 

Frauen, die sich im Schaufensterglas spiegeln und Männer, die durch beschlagene, vom Regen gezeichnete Scheiben fotografiert werden – das ist das Markenzeichen des 88-jährigen Maler und Fotografen Saul Leiter. 1923 in Pittsburgh geboren, ging er 1946 nach New York – in die Stadt, die zur Kulisse all seiner Arbeiten wurde. Er dokumentiert Menschen, Straßenschilder und Autos ausschließlich in der Umgebung seiner Wohnung im East Village, die er seit 60 Jahren bewohnt. Seiner Meinung nach müsse man nicht die gesamte Welt bereisen, denn es passiere unglaublich viel in der direkten Nachbarschaft.

Saul Leiter lichtet seine Motive so gut wie nie frontal ab und nutzt zur Darstellung die verschiedensten Objekte, die reflektieren oder durchsichtig sind, z.B. gebrochene Spiegel. Wir geraten dabei automatisch in die Rolle des heimlichen Beobachters, der sich unbeobachtet und damit auch wohl fühlt, während das Geschehen auf den Straßen New Yorks ungeniert verfolgt werden kann.

In Leiters Fotoaufnahmen lässt er die Genres der Street- Life-, Porträt-, Still- Life-, Mode- und Architekturfotografie aufeinandertreffen. Er inszeniert seine Motive durch Unschärfe und den gewollten Entzug von Licht und die Verfremdung durch Fensterglas zu einem urbanen „Wirklichkeitstraum“ – eine ganz besondere Farbsprache.

Die „Umbrella-Serie“ hat mich komplett überwältigt und deswegen möchte ich euch die insbesondere ans Herz legen! Der New Yorker lichtet Menschen, wie dich und mich, mit farbigen Regenschirmen in rot, violett und gelb bei Schnee ab, die durch New Yorks Straßen huschen. Dabei sind die Gesichter der Motive nie zu erkennen und sogar das Geschlecht lässt sich nur anhand der Kleidung fest machen. Komplett in Grautönen gehalten, bis auf den Schirm, der als Farbklecks das Bild dominiert, lässt sich erkennen, dass es weniger um die Person als Individuum, als um einen Vertreter der Masse in der Großstadt geht. Ich konnte mich beim Betrachten der Serie kaum wegreißen. Es ging sogar so weit, dass ich mir direkt einen erdbeerfarbenen Schirm gekauft habe und jetzt nur noch auf den Schnee warte, um mit meinem roten Begleiter spazieren zu gehen.

Einfach wunderschön sind seine Aktfotografien. Meine absoluten Favoriten: „Lanesville“ von 1970 und „Nude“ von 1958. In zwanglosen Posen werden die Damen mit geschlossenen Augen fotografiert. Die Bilder, geschossene Momentaufnahmen, die den Augenblick der totalen inneren Befriedigung der Frau zeigen. Leiter macht es mir als Betrachterin nicht schwer, mich in diesen Gefühlszustand rein zu empfinden.

Saul Leiter übernahm eine Pionierrolle, im Bereich der Farbfotografie: Noch vor den Vertretern der „New Color Photography“ der 1970er Jahre, wie William Eggleston und Stephen Shore, experimentierte er mit der Farbfilmkunst. Damals noch sehr teuer, griff er zu überalterten Farbfilmen, die seinen Fotoarbeiten eine unverkennbare Färbung gaben, diese Färbung wurde dann im Laufe der Zeit zu Leiters Stilmittel.

Doch Saul Leiter versteht sich auch als Maler. So begann er schon als Teenager, Ende der 1940-er Jahre, mit dem malen. Er tendiert auch hier, wie in der Fotografie zu Abstraktion und Flächigkeit. Nur begeistert mich seine Fotokunst wesentlich mehr, als seine Art zu malen. Auch die neuesten Fotoarbeiten des Künstlers, die in der unmittelbaren Umgebung seiner Wohnung entstanden sind, kommen nicht an seine Anfangswerke heran.


Ein Ausstellungstipp, der uns ganz schön ans Herz gewachsen ist und den wir euch an dieser Stelle nicht vorenthalten wollen – viel Spaß!

Die Ausstellung ist noch bis zum 5. April 2012 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.

Text: JESSICA OEMISCH

 

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