Die Sache mit dem verlorenen Freund.

10.03.2013 Allgemein, Wir, Leben

Das Teewasser kocht über, rinnt links und rechts am Topf entlang, wie mein Gehirn an den Ohren. Ich will nicht mehr denken, nur noch atmen und existieren. Unsichtbar werden in Menschenassen, wo der Lärm die Bilder aus meinem Kopf radiert. Atemlos sitze ich am Küchentisch und starre auf das verblasste Foto, das neben all dem dreckigen Geschirr wie eine Oase wirkt. Er hält mich im Arm und ich einen Joint in der Hand, es ist Sommer, zwei Caprisonnen lehnen aneinander als könnte sie nichts jemals trennen. Noch mal 14 sein. Ich stehe auf, zupfe die Heftzwecke aus unseren Körpern und steche sie mitten in sein Herz. Verreck doch endlich, denke ich, aber ich sage nur „hör auf.

Vor drei Jahren hat es angefangen. Erst eine Mail, dann zehn, dann hundert. SMS, jeden Tag. Wir sind A-Menschen, auserwählt, und du meine Frau. Ich bleibe, um dich zu beschützen und ich werde nie wieder gehen. Ignorieren, alles, bloß nicht antworten. Bis heute. Ich bringe dich um. Vier Worte im kalten Licht des Displays, die wie Abrissbirnen durch mein Leben schwingen und alles zertrümmern, was man Ruhe nennt. Heißes Blut pumpt durch meine Venen, jeder Muskel brennt, die Brust vollgepackt mit Steinen. Das Teewasser verdampft am Boden des Topfes und durch den weißen Nebel sehe ich dunkle Scherenschnitte von den Menschen, die wir waren. Irgendwann sind aus Blumenkindern Zombies geworden.

Unsere Geschichte beginnt mit 30 Grad im Schatten und Eltern, die an der Nordsee ihre Füße ins kühle Wasser tauchen, während wir Gras zwischen den Fingern zerreiben und von Jamaica träumen. Wir hatten alles, immer. Große Häuser, große Gärten, große Ideen. Irgendwann hast du vergessen, dass wir Freunde sind, hast davon geredet, wer dich bestiehlt und belügt, hast da gesessen und aus dem Fenster geschaut, während wir neue Luft in unsere Fahrradreifen pumpten. Du bist stehen geblieben, statt mit uns zu gehen, vom Internat geflogen wegen der Drogen im Urin, dir wuchs ein Bart, aber Erwachsen geworden bist du trotzdem nicht. Irgendwann waren wir weg und du allein. Kein Wort mehr. Jahrelang.

 

Foto: Nike van Dinther. 

„Sie können ihm nicht helfen. So lange er seine Medikamente nimmt, wirkt er stabil, aber es wird nie wieder gut werden.“ Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, Verfolgungswahn, suizidal, steht auf dem weißen Zettel geschrieben. Fünf Jahre vergehen bis mein Telefon klingelt, weil du nicht mehr kannst. Weil du Angst hast vor dem Moment, in dem du dir selbst die Kehle aufschlitzt und an deinem Blut erstickst. Du sitzt neben mir in einem weißen Raum, vor uns ein weißer Schreibtisch auf dem ein dicker Mann mit weißem Haar im weißem Kittel lehnt. Es riecht nach Desinfektions-Spray und Erbrochenem. Ich halte deine Hand, eine Stunde lang, dann muss ich gehen. Als ich mich umdrehe um dir Mut zuzuwinken, sehe ich dich zum letzten Mal. Nach 24 Stunden Zwangsaufenthalt verschwindest du spurlos. Weil sie dich verarschen, dich belügen und bestehlen wollen, dich abhören und verfolgen, so wie alle, die ganze Welt ist gegen dich. Funkstille. Jeden Morgen, 730 Tage lang, warte ich auf ein Zeichen. Und ich hoffe, dass man mir sagen wird, dass du lebst.

 

Dann ein Lebenszeichen, die erste Nachricht. Zwei Seiten voll mit Erklärungen, die nur du verstehst, überall Codes, die nur du lesen kannst, Worte, die keinen Sinn ergeben, nur für dich, in deiner eigenen Welt, die verseucht ist von Drogen und Medikamenten und Klebstoff. Ich tippe „schön, von dir zu hören“ und weiß, dass mein bester Freund längst gestorben ist.

 

Foto: Nike van Dinther

„Komm zum Flughafen, oder ich bringe mich um“. Ich bleibe, wo ich bin, gelähmt von zu viel Verantwortung, die ich nicht tragen kann. Und von der Angst, dass du es diesmal ernst meinst und ich nie wieder deine Hand halten kann. „Ich weiß, dass du mit diesem Schwein fickst, ich will das Vieh tot sehen.“ Und ich hoffe wieder, dass du nur spielst. „Ich habe keine Hemmungen, deine Freunde zu töten“. Es ist Weihnachten, die Polizei trinkt Kaffee im Wohnzimmer meiner Eltern und sagt, du hättest ganz ruhig gewirkt. Kein Grund zur Panik. Auch diesmal hoffe ich, dass sie recht behalten. Ich will raus, spazieren gehen, an die frische Luft, aber nach wenigen Metern drehe ich um. Weil ich schwitze und dich im Rücken spüre, ich renne die letzten Meter und kann nicht mehr atmen bis der Schlüssel von innen drei Mal umgedreht ist. „Ich fahre jetzt zu dir nach Berlin.“ Bitte nicht, denke ich, und packe meine Tasche, um nicht da zu sein, wenn es an der Tür klopft. Überhaupt läutet ständig die Klingel, wie eine Geisterklingel, irgendwie unecht, hören kann ich sie trotzdem, aber nie ist jemand da. „Er wird versuchen, dich umzubringen. Es wäre besser, wenn du Montag nicht zur Arbeit gehst.“

 

Vier Worte im kalten Licht des Displays. Ich fülle einen Topf mit kaltem Wasser, lasse es über meine Hände laufen und versuche, irgend etwas zu spüren. Ich starre auf das Foto an meiner Wand und frage mich, ob ich dir hätte helfen können, ob ich strenger hätte sein müssen, ob ich dir deine scheiß Fresse hätte einschlagen sollen, damit du zur Besinnung kommst. Ich frage mich, was ich fühle würde, solltest du wirklich irgendwann gehen und aufhören zu atmen.

 

Das Teewasser kocht über, als ich meine Zahnbürste aus dem Bad hole, um sie in meine Reisetasche zu packen. In diesem Moment hasse ich dich und ich bohre die Heftzwecke noch tiefer in dein Herz, damit du fühlen kannst, was ich fühle, damit du dich daran erinnerst wie es früher war. Als du mein bester Freund warst und nicht mein Stalker.

Für M.

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