John Galliano, das „Enfant Terrible“ der Modeszene, hatte es vor knapp zwei Jahren, gelinde gesagt, auf die Spitze getrieben – jetzt wird das Ganze Szenario erneut aufgewiegelt. Die Fakten dazu: Nachdem der Designer wegen antisemitischer Äußerungen zunächst von seinem Posten bei Dior befreit wurde, musste er sich schließlich auch vor Gericht verantworten. Eine Geldstrafe in Höhe von 6000 Euro auf Bewährung waren die Folge seiner Pöbeleien gegenüber diverser Restaurant-Gäste an einem Abend in Paris und abgefeuerten Kommentaren wie «Ich liebe Hitler» oder «Leute wie Sie sollten tot sein. Ihre Mütter, Vorfahren sollten alle verdammt vergast sein». Nicht nur die Modewelt, sondern der halbe Erdball gab sich fassungslos – und plötzlich schieden sich die Geister am Verhalten Herrn Gallianos. Scarlett Johansson zum Beispiel, stand hinter ihrem Freund, nahm ihn sogar in Schutz, die jüdische Natalie Portman hingegen kennt bis heute kein Pardon und auch Karl Lagerfeld wetterte öffentlich gegen seinen Kollegen. Auch jetzt gehen die Meinungen über den enormen „Fehltritt“ des Helden der Provokation wieder weit auseinander.
Neuester Aufhänger: Die „Parsons New School Of Design“ will Galliano als Professor einstellen. Eine Petition soll das verhindern, berichtet Fashionista.
“It doesn’t matter if it’s for three months or three days, hiring someone who has made such horrific comments shows that the school values Galliano over their entire Jewish student body. It shows they value him over their students’ respect, peace of mind, and heritage. We do not want money from our tuition going to this kind of person. We feel like we’ve been slapped in the face by our school“, heißt es dort. Die Forderung: “Anti-Semitic Fashion Designer John Galliano should not teach at the school as it undermines the school’s respect for their entire Jewish body.”
Erst einmal klingt das Anliegen der Studenten (jedenfalls vermutet man, dass es sich bei den anonymen Initiatoren um selbige handelt), äußerst plausibel, gerechtfertigt und unterstützungswürdig. Das (moralische) „Problem“ ist bloß, dass wir in einer Gesellschaft leben, die versucht, ihre „Problemkinder“ wieder zu integrieren. Haft- und Geldstrafen sollen unter anderem als Möglichkeit Buße zu tun funktionieren, Kriminellen wird eine Chance auf Besserung geboten, und wir, wir sollten all jenen, die ihre Strafe angenommen haben, im besten Fall verzeihen (in wie weit das Möglich ist, fragen wir uns natürlich ständig). Und: Man kann den Menschen leider nicht in den Kopf schauen. John Galliano entschuldigte sich öffentlich. „Antisemitismus und Rassismus haben keinen Platz in unserer Gesellschaft: Ich entschuldige mich ohne Vorbehalte für mein Verhalten.“ Welcher Wahrheit sollen wir denn nun Glauben schenken? Der Spiegel zitiert jedenfalls „Er habe sein Leben lang ‚gegen Vorurteile, Intoleranz und Diskriminierung‘ gekämpft, zumal er selbst davon betroffen gewesen sei. Ich muss jedoch akzeptieren, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe die Menschen zutiefst schockiert und verärgert haben.“
Dafür entschuldige er sich uneingeschränkt. „Verantwortung“ müsse er übernehmen für die Umstände, durch die er in schlechtes Licht geraten sei, berichtete damals n-tv. Außerdem werde er sich Hilfe suchen.
Denn Galliano hatte sich offenbar an nichts erinnern können. „Ein Toxikologe erstellte dem 50 Jahre alten Briten ein Gutachten, nach dem das Erinnerungsvermögen komplett ausfällt, wenn man Gallianos damals übliche Dosis zu sich nimmt: Viel Alkohol (allein kurz vor der Tat mehr als zwei Flaschen Rotwein) plus zwei verschiedene Beruhigungsmittel, unter anderem Valium“, schrieb Focus. Fest steht jedenfalls: Der Designer hatte ein Drogen-Problem – wie es heute um ihn steht, das weiß wohl nur er selbst. Endloser Stress vor der Fashion Week, dieser enorme Druck, ein Totalausfall also? Ein menschlicher Fehler?
Eine Master Studentin der Parsons räumt ein: “We all say stupid s— while drunk. We’ve all made Jew jokes.“ Wenn wir ehrlich sind, dann hat sie damit vielleicht recht. Von Juden-Witzen aus meinem Munde weiß ich zwar tatsächlich nichts, dafür ich erinnere mich aber noch gut an meinen öffentlichen „Flamongo“-Scherz-Fehltritt und ein ganzes Sammelsurium politisch inkorrekter Scherze auf Kosten etlicher Minderheiten, die halbnüchtern über meine Zungenspitze wanderten. Ich bin allerdings auch kein John Galliano.
Zweifelsohne ist es für uns unmöglich jemals zu erfahren, was denn nun wirklich im Kopf des Modeschöpfers vorgeht, ob er kontroverser Weise tatsächlich rassistische Gedanken hegt und ein komplettes Arschloch, oder ob er bloß ein Mensch ist, der Fehler macht, wenn auch gravierende, ein Mensch, der sich unter Stress geistige Fehltritte der Extraklasse leistet, die er, wie auch wir es tun würden, von ganzem Herzen zu bereuen in der Lage ist.
Ob wir verzeihen können, das entscheidet in diesem Fall vielleicht sogar vielmehr unser Gefühl statt das Gehirn. Bei allem Wohlwollen: Ich denke, ich kann es trotzdem nicht.
Oder?