Ich bin einer dieser Lesetypen, denen auch mal ein Tränchen runterkullern kann, wenn sie etwas lesen, das ihnen einfach nur herzzerreißend schön oder himmeltraurig erscheint. Beim Buch „Fast ganz die Deine“ von Marcelle Sauvageot habe ich wortwörtlich Sturzbäche geheult. Selten bin ich einem Buch begegnet, das mich mehr bewegt und berührt hat als dieses kleine Bändchen, das so präzise, nuanciert und ehrlich die Liebe beschreibt.
Die 30-Jährige Marcelle Sauvageot ist an Tuberkulose erkrankt und begibt sich in ein Lungensanatorium in Hauteville, wo sie der lapidare Trennungsbrief ihres Verlobten erreicht. Er verlässt sie für eine andere. Schwer krank schreibt Marcelle ihm eine Antwort – ein Versuch die Enttäuschung und den Schmerz zu verarbeiten. Den Brief wird sie niemals abschicken.
Von ihren Freunden wird Marcelle ermutigt, den Brief zu veröffentlichen und so kursiert kurz vor ihrem Tod 1934 ein Privatdruck des Schreibens – bis ein Literaturkritiker das Manuskript posthum veröffentlicht und einer größeren Leserschaft zugänglich macht. Das kleine Büchlein ist und bleibt die einzige Veröffentlichung von Marcelle Sauvageot, die vor ihrer Krankheit als Lehrerin an einer Pariser Knabenschule gearbeitet hat.
Während des Lesens ertappt man sich beim heftigen Kopfnicken. Wenn Sauvageot zum Beispiel die Sorte Frau hinterfragt, welche ausschließlich die Standpunkte ihrer Ehemänner wiedergeben und man am liebsten laut losschreien möchte, wenn sie Männer beschreibt, die sich zwar von unabhängigen und selbstbewussten Frauen angezogen fühlen, sich aber für „Zuhause“ dann doch lieber für eine angepasstere Partnerin entscheiden.
Was Marcelle Sauvageot auf knapp 70 Seiten beschreibt, trifft auch 80 Jahre nach Erstveröffentlichung noch mitten ins Herz. Der kleine Berg Taschentücher neben mir zeugt von der Fähigkeit einer starken Frau und man wünscht sich, man hätte in entfernt ähnlichen Situationen genauso reflektiert, klug und mit so viel Selbstwertgefühl reagieren können.
Marcelle Sauvageot „Fast ganz die Deine“, 2004, Rowohlt Verlag