Brain-Blah //
Minimalismus vs. Makel

11.06.2015 box2, Trend, Gesellschaft

10864817_329485037240679_2081182382_nVor ein paar Wochen lud das H&M Starting House zu einer Gesprächsrunde im kleinen Kreis, eigentlich sollte sich alles um die Entwicklung von innovativen Designkonzepten drehen, am Ende zerpflückten Donald Schneider, Global Creative Director von H&M, Hien Le, Berliner Modedesigner und Dirk Staudinger, Gründer der Kreativ-Agentur Cc, die unter anderem Marken wie Nike, Apple oder Chanel zu ihren Kunden zählt, aber das Glatteis-Thema der möglicherweise schwindenden Trends. Gibt es überhaupt noch Trends im Jahr 2015 und wenn ja, wie findet man sie, wie sehen wie aus? Unentschlossenheit. Zum allerersten Mal stand ich selbst so sehr auf dem Schlauch, das mir irgendwann das Hirn rauchte. Erst zustimmendes Nicken, dann verzweifeltes Schielen. Stellt doch meine Welt jetzt nicht auf den Kopf. Ein paar Mal wollte ich widersprechen, was ich dann aus Respekt und Realismus allerdings doch nicht tat, schließlich mischen Donald, Dirk und Hien ganz vorne mit.

 Abspecken 

Zunächst einmal schien alles ganz logisch. Wir leben in einer Gesellschaft des Überflusses, da ist es nur folgerichtig, dass man sich irgendwann Luft machen muss. Sich von Ballast befreien und auf das Wesentliche zurück besinnen, aufräumen. Es geht vor allem um Reduktion, um Minimalismus als Lebenskonzept. Detox, nicht nur im Smoothie, sondern überall. Soziale Medien dienen als Spiegel der schneeweißen Bewegung: Viel Raum, wenig Klimbim, ein paar drapierte Bücher im ordentlich kuratierten Regal, kein Knüngel, nur Ordnung. Kleiderstangen als Accessoire, geschmückt mit gleichfarbigen Hemden, daneben Sneaker in unaufdringlichen Eierschalen-Tönen. Die Geburt von Normcore, einem Stil, der von Basics, statt Individualität genährt wird. Man könnte fast meinen, wir seien dem Spaß am Konsum über und lebten schlussendlich in einem Zustand der Befreiung. Das anzunehmen wäre allerdings fatal; wahrscheinlicher ist, dass das Wettrüsten der makellosen Ästhetik gerade erst begonnen hat. In unserer und eurer Welt, versteht sich. Die restlichen 95% der Menschheit werden vorerst ausgeklammert. Ganz sicher nicht aus böser Absicht, aber an diesem Abend sprechen Opinion Leader über Opinion Leader. Auch ein paar Early Adopters haben hin und wieder noch was zu melden, dabei „ist es eigentlich längst zu spät, sobald man einen Trend auf irgendeinem Foto erkennt.“ Na, was denn jetzt, frage ich mich. Werden wir nicht seit Jahren vom Minimalem erschlagen, in allen Bereichen? Kleidung, Musik, Lebensräume – der gemeine Internet-Juppie kleckert doch nur noch statt zu klotzen. 

Der Spieß dreht sich um

Ich halte also inne, schlucke, schaue fragend zu meinem Sitznachbar rüber, in der Hoffnung ein paar Fragezeichen über seinem Kopf dampfen zu sehen, aber nein, eifriges Nicken. Mir dämmert, dass ich nichts kapiert habe. Dass ich das, was hier passiert, immer weniger verstehe, dass ich dem Status Quo keine Nasenlänge mehr voraus zu sein und in einem Paralleluniversum zu existieren scheine. Hätte man mich nämlich nach dem gerade aufbrodelnden Mega-Trend gefragt, ich hätte das Gegenteil von vielem Vorangegangen behauptet. Schlichtheit ist zwar präsent wie nie zu vor, aber fangen wir nicht langsam an, uns zu langweilen? Ich schon und ihr bestimmt auch. Wobei Langeweile im besten Fall auch die Abwesenheit von Stress bedeutet. Es könnte also schlimmer sein. 

In Gedanken gelange ich zu der 70er-Jahre Übersättigung, die gerade auf sämtlichen Blogs und in jedem zweiten Advertorial durchgepeitscht wird. Zu Recht – aus Gründen, die ich hier bereits erwähnte und dieser kitzeligen Sehnsucht nach weniger Geradlinigkeit und mehr optischem Spaß. Ich finde übrigens nicht, dass es hierbei um Personalisierung geht, man muss wirklich nicht unbedingt einzigartig sein, was dank der Globalisierung und Digitalisierung ohnehin ein nahezu unmögliches Unterfangen ist und allzu oft im Schein-Individualismus mündet – aber mehr Mut wäre gut. Und mehr Gemütlichkeit fernab von Turnschuhen.

Mehr sein

Was ich derzeit beobachte, ist außerdem Spiritualität. Natürlich auch wieder eine logische Weiterentwicklung des Körper- und Ernährungsbewusstseins, aber eine, die sich nicht nur in Yogastunden äußerst, sondern auch in Makramees, Indianerschmuck und Traumfängern. Da ist ganz viel Fernweh, Marrakesch dient als Inspirationsquell schechthin und der Kaktus steht längst nicht mehr auf Marmorplatten, sondern auf bunten Kelim-Teppichen. Das ist nur eine Seite der Medaille, aber immerhin jene, die bezeugt, dass wir vielleicht doch lieber heimelig werden, statt in leeren Räumen, Minimal-House-hörend zu vertrocknen. Nicht umsonst erlebt Psychedelic Rock seit einigen Saisons ein Come Back. Es scheint, als hinge die Sau, die endlich raus gelassen werden muss, schon etwas länger in der Pipeline fest. In allen Bereichen. Mehr Kunst an Wänden, mehr Klimbim in Schränken, mehr Sein in der eigenen Wohnung und am Körper, mehr Pizza, mehr Echtheit, mehr Fehler, mehr Makel, mehr Durchdrehen.

Vielleicht sind echte Trends wirklich tot, weil die Menschen verschieden sein dürfen und sollen und wollen. Vielleicht sind tendenzielle Trends so lebendig wie nie, weil die Menschen überall Gleichgesinnte finden können, und weil ähnliche Geschmäcker jeden Tage neue Trend-Cliquen formen.

Hien Lie findet: „Trends haben immer weniger Bedeutung, viel wichtiger ist es, seinen eigenen Stil zu finden und weiter zu entwickeln.“ Womöglich wird dem Begriff „Trend“ aber auch einfach zu viel Gewicht unter gejubelt, wahrscheinlich ist er längt überholt, vielleicht passt die Definition nicht mehr zum Ist-Zustand, denn ohne Trends im weitesten Sinne keine Marktforschung, kein Verstehen der Konsumenten, keine Weiterentwicklung, kein Zusammengehörigkeitsgefühl, nur Stillstand. Einigen wir uns also vorerst darauf, dass es ist in jedem Fall ziemlich zeitgeistlich ist, sich überdurchschnittlich intensiv mit allen Bereichen der eigenen Existenz zu beschäftigen, dass Eitelkeit zur Norm avanciert. Ich verurteile das keineswegs. Ist es nicht richtig, für maximale Schönheit zu sorgen, wenn man doch nur dieses eine Leben hat?   

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17 Kommentare

  1. eine

    Ich liebe Brain-Blah! Und finde diese neue Rubrik unglaublich charmant und inspirierend! Schön, dass ihr euch nicht scheut, Stellung zu beziehen. Freu mich schon auf das nächste Brain-Blah 🙂

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  2. maja

    Hien Lie findet: “Trends haben immer weniger Bedeutung, viel wichtiger ist es, seinen eigenen Stil zu finden und weiter zu entwickeln.”
    Das kann man auch als Aufforderung verstehen (wenn man nicht zu jenen gehört, die ihren Stil bereits gefunden haben und nicht unreflektiert von skandinavischem Minimalismus zu Hippie-Boho-70er wechseln), sich selbst, die eigene Persönlichkeit und Ästhetik (die natürlich nie absolut frei von Einflüssen ist) unabhängig von den Trends der „Fashion-Industrie“ auszuleben. ich fand den einheitlichen und omnipräsenten Drang plötzlich Schlaghosen usw. toll zu finden, der auf fast allen Blogs gleichzeitig stattgefunden hat, wirklich lustig und gleichzeitig auch bedenklich, spiegelt es doch wider, wie sehr die „Blogger-Geschenke/ Stücke der neuen Kollektionen“ sofort vorgeführt wurden, ohne drüber nachzudenken, wie viel von einem selbst darin steckt. Dadurch verlieren Blogger, die vorher eben einen anderen Stil hatten, der mich persönlich ansprach, für mich an Glaubwürdigkeit. Leider. Da trennt sich dann die Spreu vom Weizen.

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  3. Katharina

    Was erzählen die (bestimmt ansonsten sehr schlauen und netten Menschen) denn da für komische Sachen??? Na selbstverständlich gibt es Trends, und zwar ganz klar erkennbare und in allen Bereichen der Kultur. Musik, Mode, Lebensstil – die meisten folgen dem Zeitgeist. Die einen ein bisschen früher, die anderen später. Als Beweis genügt ja zuerst ein Querblättern durch Blogs und Magazine (gleiche Labels, gleiche Interior-Poster, gleiche Hosenformen…Trends halt) und ein bisschen später auf der Straße. Vielleicht besteht eine stärkere Sehnsucht danach, selbst Trendsetter zu sein – aber die Kunst ist nur wenigen vorbehalten. Und schließlich sind wie trotzdem unglaubliche Individualisten in Sachen Gefühl, Liebe, Gedanken ….

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  4. Ann-Sophie

    Hallo Nike! Dieser Text ist ganz ganz toll geschrieben! Das wollte ich dir nur mal eben mitteilen! 🙂
    Und die Beobachtungen (Kakteen, Makramee) habe ich auch schon auf Etsy gemacht. Da werden unwahrscheinlich viele Produkte dergleichen angeboten.

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  5. Judith

    Brain-Blah ist wohl die beste Kategorie unter all den sowiesoschon besten Kategorien hier. Ganz ganz toll.

    Zum Thema: Ich glaube vielleicht, dass man heute nicht mehr Trend und Trend gleichsetzen kann. Es gibt Bewegungen, wie die, die du oben beschreibst, die viel längerfristiger und nachhaltiger sind und Trends, die immer immer schneller wechseln und quasi nur ein paar Wochen da sind. Beides passiert ja irgendwie parallel mittlerweile.

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  6. Claudia

    Um im Bermuda-Dreieck von Trends, Hype und Selbstdarstellung nicht unterzugehen, finde ich es nahezu essentiell, sich treu zu bleiben und einen eigenen Stil, der zu einem passt, zu haben. Sonst bläst einem der Fashion-Wind wie einen zarten strohhalm durch die Gegend. Je mehr ich medial erfahre und lese, desto näher komme ich mir wieder selbst. Weil mir sonst alles zu viel wird. Wie sagt man so schön, man muss nicht auf jeder Hochzeit tanzen.

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  7. Lena

    Hien Lie hat sehr Recht! Ich finde Freunde von Freunden ist eine gute Adresse, um zu sehen, wie man es richtig macht (im Sinne von eigenen Stil finden; Einflüsse einbeziehen lässt sich nicht vermeiden etc.)… zumindest im Wohnbereich und für mich. Bewegungen, Strömungen sieht man da, die seit Jahrzehnten gültig sind (oft aber als Trend abgetan werden, was ich sehr schade finde wie zB den alten Bekannten, den schönen Eames, der einfach ein tolles Stück Design ist). Und dazu eine große Portion Individualität. Das macht für mich das ganze Spiel aus, nicht nur im Wohnbereich. Ich lasse mich gerne inspirieren, bastle mir das zusammen, was ich mag und wenn da mal ein Trend dazwischen kommt, dann leb ich damit. Das Trend Ding ist ne Gratwanderung, allein am Begriff kann man sich ewig aufhängen. Ich glaube aber „Trends“ gibt´s noch, man bekommt die auch nicht so einfach platt.

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    1. Ana

      Hm… ich denke ich weiß was du meinst, aber Freunde von Freunden finde ich selbst kein gutes Beispiel. Eher vielleicht The Selby & Co., wo es nicht so einseitig zugeht.

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  8. Janni

    Hui ich mag eure Rubriken und Artikel, die so klug geschrieben sind – ich hab nämlich ein bisschen die Schnauze voll von oberflächlichen, dümmlich wirkenden Bloggern die mehr wie Werbung als alles andere klingen.
    Es ist also sehr gut und sehr sympathisch, dass ihr euch, wo ihr doch mitten im Zirkus drin steckt, mit so einem Thema auseinandersetzt und eben auch mal widersprecht. 🙂

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  9. Laura

    wunderschöne gedanken gedankengänge mit denen ich mich auch seit längerem beschäftige.
    es ist wie bei allem menschen wollten sich schon immer abgrenzen. mit jugenkulturen von allen, mit rockmusik von den ältern. mit individualität vom mainstream. das ist gut so, denn es ist wie du es sagst. ein leben zur verwirklichung!

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  10. Anna Philippa

    Liebe Nike,

    irgendwie finde ich, dass der Abschlusssatz („Ist es nicht richtig, für maximale Schönheit zu sorgen, wenn man doch nur dieses eine Leben hat?“) nicht so ganz zu dem passt, was du sonst so schreibst.
    So beendetest du einer deiner etwas älteren Artikel (aber eben auch noch nicht so weit in der Vergangenheit liegend) mit:
    „“Life should not be a journey to the grave with the intention of arriving safely in a pretty and well preserved body, but rather to skid in broadside in a cloud of smoke, thoroughly used up, totally worn out, and loudly proclaiming “Wow! What a Ride!”. Amen.“

    Doch unabhängig von deinen sonstigen Artikeln, muss ich diese Frage mit einem klaren „Nein.“ beantworten.

    Wahrscheinlich beziehst du „maximale Schönheit“ nicht nur auf den eigenen Körper, aber wenn es um das Maximum geht, bezieht sich der Begriff doch auch darauf.
    Liegt in dem Streben nach maximaler Schönheit nicht ebenjenes Streben nach Perfektion, dass sonst gerne als Schönheits- oder Schlankheitswahn verurteilt wird? Schönheitsoperationen, vollkommen überteuerte Kosmetikprodukte, gephotoshopte Models, Minderwertigkeitskomplexe – eben weil dieses Ziel so unerreichbar ist.
    Das Gefühl, zu wenig zu schaffen und zu haben, ja gar zu sein ist doch gerade das, was vielen begegnet, wenn sich sich Blogs, insbesondere aber Instagram-Verläufe ansehen, wo maximale Schönheit gezeigt wird, wo selbst, wenn einer mal einen riesen Berg ungewaschener Wäsche zeigt, dieser so ausgeleuchtet ist, dass es dann doch wieder schön aussieht.

    Natürlich erfreuen wir uns alle an Ästhetik, aber einem Ziel entgegen zu rennen, bei dem man sich sicher sein kann, dass man es nie erreicht, kann auch sehr frustrieren und dazu führen, dass man all das Schöne, was man in seinem Leben tatsächlich hat, nicht mehr wahrnimmt.

    LG,
    Anna Philippa

    PS: Ich hoffe dieser Kommentar wird nicht als „Boah, Nike wie doof bist du denn.“-Kommentar missverstanden. Soweit ich die Rubrik „brain-blah“ verstehe, soll sie zum Nachdenken anregen. Das hat sie getan. Insofern: Auch, wenn ich nicht mit allem übereinstimme, was du geschrieben hast, finde ich deinen Artikel richtig gut!

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    1. jen

      Ich stimme dir zu, maximale Schönheit bedeutet gnadenlose Selbstoptimierung, das kann und sollte nicht das Ziel sein!
      Toller Artikel, bitte mehr in dieser Richtung!

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  11. Pingback: Cherry Picks #24 - amazed

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