„Wir leben in einer anorektischen Gesellschaft“, behauptet der italienische Fotograf Oliviereo Toscini. Vor allem die Modewelt habe mit Magersucht und Bulimie zu kämpfen, sie sei krank, sehr krank. Wie recht er hat, beweist nicht nur eine vor Kurzem öffentlich gewordene Studie, in der 70 von 241 essgestörten Patientinnen angaben, Heidi Klums Germany’s Next Topmodel habe „einen sehr starken Einfluss auf ihre Erkrankung gehabt“. Das jüngste Beispiel einer Saint Laurent Kampagne, die aufgrund der zu dünnen 18-Jährigen Kiki Willems schon kurz nach Veröffentlichung von der Advertising Standards Authority verboten und verbannt wurde, lässt tiefe Einblicke in das zunehmend unverantwortliche Treiben der Global Player der Branche zu. Wie aber macht man am besten auf eine Krankheit aufmerksam, die nur haarscharf am geltenden Schönheitsideal vorbei schrammt? Für die einen ist Anorexie zu abstrakt, zu weit weg, zu unwirklich. Andere stecken selbst schon viel zu tief drin.
Magersucht als omnipräsentes Thema kommt trotz der beiwohnenden Tragik häufig ohne anteilnehmende Emotionen aus. Statt Empathie erzeugen Bilder wie jene von Isabelle Caro, die 2007 gerade einmal 32 Kilo wog und vor Toscinis Linse nackt für eine No-Anorexia-Kampagne posierte, tendenziell eher Ekel und Entrüstung. Manchmal werden sie aber auch übersehen. Vielleicht weil wir abgestumpft sind, womöglich wegen der Gewöhnung. Der jüngst in den Kinos angelaufene Dokumentarfilm „SEHT MICH VERSCHWINDEN“ fordert seine Zuschauer auf, unsere mediatisierte Welt durch die Augen von Isabelle Caro und Kiki Allgeiger zu betrachten. Er macht uns bewusst, dass man gegen Essstörungen, gegen den Magerwahn in der Modeindustrie und der damit verbundenen schweren Erkrankung Magersucht, kämpfen muss, immer wieder.
„SEHT MICH VERSCHWINDEN erforscht die Geschichte von Isabelle Caro, die im Jahr 2007 für Aufsehen sorgte, als sie sich nackt mit nur 32 Kilo Körpergewicht für die „No-Anorexia“-Kampagne des italienischen Modelabels „Nolita“ von Oliviero Toscani abbilden ließ.
Ihre ausgemergelten Konturen erschrecken und sind brutale Verbildlichung eines verzerrten Gesellschaftsbildes auf Schönheitsideale. Die Weltpresse ist fasziniert von diesem selbstzerstörerischen Exhibitionismus, die Bilder verbreiten sich in Windeseile auf diversen Plattformen und Medien. Gleichzeitig trifft die Kampagne auf harte Kritik – auch aus Angst, die Bilder könnten, anstatt abzuschrecken, jungen Frauen als Inspiration dienen. So werden die Poster nach wenigen Tagen wieder entfernt – nicht aber aus dem Netz oder den Köpfen. Was bleibt, ist Isabelles Erkenntnis über die Macht ihrer Zerbrechlichkeit, die sie fortan nutzt, um die Medien für ihre Sache einzusetzen.“
Info:
Im Kampf gegen Magersucht führen Länder wie Spanien, Italien, Belgien und jetzt auch Frankreich neue Gesetze ein und bestrafen die Verherrlichung krankhafter Schlankheit. Jedes Model muss ein Gesundheitszeugnis mit einem bestimmten Body-Mass-Index vorzeigen, bevor sie einen Job annehmen kann. So will die französische Regierung Mager- Models von den Laufstegen verbannen.