In meinem Wandschrank stehen zwei Bücher von Miranda July, „No one belongs here more than you„, eine Kurzgeschichtensammlung, und „Learning to love you more„, das im Grunde eine gebundene Zusammenfassung des gleichnamigen Kunstprojekts ist. Beide Werke haben mich fasziniert, keine Frage, aber keines hat mich um den Schlaf gebracht. Ähnlich erging es mir mit den beiden Langfilmen der in Los Angeles lebenden Allround-Künstlerin, weder „The Future“, noch „Me and you and everyone we know“ konnten mich, im Nachhinein betrachtet, so richtig mürbe machen, im positivsten aller Sinne natürlich, was nicht bedeutet, dass ich sie nicht mochte. Es ist nur ein bisschen so, als würden sämtliche Kritiker dieser Welt Miranda July bedingungslos auf Schritt und Tritt folgen, vielleicht weil sie selbst als Person so bunt und schön und bizarr ist, womöglich fehlte mir bisweilen aber auch einfach der Sinn für ihre filmischen und literarischen Ergüsse, gut möglich.
Etwas anders verhält es sich mit ihrem Debüt-Roman „The first bad man„, der jüngst im Englischen erschien. Seit drei Tagen gehe ich zu spät ins Bett, um doch noch eine Seite lesen zu können und noch eine und noch eine, bis die Augen brennen.
Der Inhalt des Romans lässt sich mit einer Abfolge seltsamer Begebenheiten erklären, wenn man es kurz halten will – alles beginnt mit der Protagonistin Cheryl, die irgendwo in ihren 40ern steckt und mal heimlich, mal äußerst offensichtlich für ihren über 20 Jahre älteren Kollegen Philipp schwärmt, der seinerseits, kurz bevor man schon nach wenigen Kapiteln an ein Happy End glaubt, dem Schoß einer Minderjährigen verfallen ist und ausgerechnet bei Cheryl nach Absolution sucht.
“I always had to resist the urge to go to him like a wife, as if we’d already been a couple for a hundred thousand lifetimes. Caveman and cavewoman. King and queen. Nuns”. So sehr kann man also daneben liegen. In „The first bad man“ geht um die verschiedenen Facetten von Liebe und Abhängigkeit, um zerstreute, suchende Seelen, Telepathie, Neurosen und das Unvorhersehbare, um zwischenmenschliche Verbindungen, die sich ebenso wenig kategorisieren lassen wie Miranda Julys Schreibstil selbst, es geht um das Ende der Väterherrschaft, um Chauvinismus, Sexismus, Spiritualität und die Selbstbestimmtheit der Frau, des eigenen Ichs. Es geht aber auch um die omnipräsenten Machtspiele von Erwachsenen, aber vor allem darum, was passiert, wenn der Vorhang fällt und wir uns genau so sehen, wie wir wirklich sind. Alles verpackt in skurrile Momente und Konversationen.
Es gibt da zum Beispiel eine Therapeutin, die ihre Patienten, auch Cheryl, zum Spielball seltsamer Rollenspiele macht und Clee, die verzogene, unverschämte Kotzbrockentochter von Cheryls Vorgesetzten, die als unerwünschte Mitbewohnerin glänzt, die aggressiv, rotzig und gewalttätig ist, bis sie sich ihrer Gastgeberin ganz unverhofft annähert. Cheryl wird erst zur Gehassten, dann zu Geliebten und schließlich zu einer Art Ersatzmutter, man glaubt den Zeilen kaum. Nach den ersten fünf Kapiteln dämmert mir, dass Miranda July diese Geschichte vielleicht nicht wegen der Geschichte an sich aufgeschrieben hat, nicht wegen der Dinge, die in ihr passieren, sondern wegen wegen all der Sätze und Gedanken und Gespräche, die noch viel mehr sagen als das Offensichtlichste. Weil Miranda July etwas über das Leben weiß, das sie uns unbedingt mitteilen will.
“My eyes fell on the gray linoleum floor and I wondered how many other women had sat on this toilet and stared at this floor. Each of them the center of their own world, all of them yearning for someone to put their love into so they could see their love, see that they had it.” Manchmal ist es beim Lesen so, als wäre man selbst die Frau, aus deren Mund und Finger solche Worte wachsen und dann wieder überwiegt das Gefühl, man würde verrückten Menschen aus sicherer Entfernung beim Tanzen zuschauen, um deren Innerstes zumindest ein Stück weit verstehen zu können. Deren Innerstes, in dem sich auch immer ein bisschen von uns selbst spiegelt.
“Then I realized that we all think we might be terrible people. But we only reveal this before we ask someone to love us. It is a kind of undressing.”
Ich bin noch nicht ganz fertig mit „The first bad man“, deshalb breche ich an dieser Stelle schon ab. Eigentlich frech, aber ich konnte nicht abwarten, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass auch die letzten Seiten nichts an meinem Buch-Tipp ändern würden. Kaufen, abtauchen, wundern und ein bisschen Miranda mit in den Alltag nehmen.
Ab Herbst ist die deutsche Übersetzung erhältlich.