Die letzten Wochen waren mit die Abstand die Verrücktesten, seitdem du, Kind Nummer 1, auf der Welt bist. Mit klopfendem Herzen sind wir alle Fünf Anfang September aufgebrochen – in eines der wahnsinnigsten Abenteuer, die wir als Familie bislang geschafft haben. Euch alle Zuhause auf die Welt zu bringen, war der erste große Schritt – dich als Schulkind in die erste Reihe deiner neuen Schule zu setzten, war allerdings mindestens genau so überwältigend.
An diesem Samstagmorgen im Spätsommer bist du nach dem Aufstehen in deine Lieblingssachen gesprungen und hast plötzlich ganz groß ausgesehen. Kann das denn überhaupt über Nacht passieren, dass man plötzlich soviel wächst? Rein ins neue Abenteuer: Ranzen und Schultüte geschnappt und voller Erwartungen los, auf dem Weg viele Kinder mit neuen Ranzen auf dem Rücken in schickobello Kleidung getroffen und mit stolzen Omas an der Hand. Ich hatte deine in meiner – und während du am Anfang noch gehüpft bist, wurde das auf und ab irgendwann ruhiger bis es zum Stillstand kam. Deine Hand in meiner -jetzt merklich fester: Vor uns war es, das große grüne Schultor. Du wurdest leise und die Augen größer. „Keine Angst, habe ich dir zu geflüstert – wir sind alle da und bleiben bei dir“.
In die erste Reihe allein wolltest du nicht – und so hast du dir auf meinem Schoß sitzend alles angesehen was die „Zweitis“ und „Drittis“ da für Euch gesungen und vorgeführt haben. Die ersten Kinder wurden aufgerufen und sind stolz zu ihren Paten gelaufen. Dein Name war der Letzte auf der Liste – und unter dicken Tränen und auf meinem Arm habe ich dich mit den anderen in deine neue Klasse getragen. Mit ganz viel Mut im Gepäck und an der Seite eines Lieblingskindes, hast du es natürlich am Ende doch geschafft dir dort alles in Ruhe anzuschauen. Ich, derweil wie ein Tiger im Käfig vor der Tür des Klassenzimmers, auf- und abgehend – in der Hoffnung, dass es Dir gut geht. Hundeelend war mir. Ein Glück, dass nach der ersten Schulstunde ein erleichterndes Gefühl folgte und ein grinsendes, glückliches Kind auf mich zu lief: „Richtig schön war es, Mama.“
Ausatmen. Einatmen und wieder von vorn. Erstmal nach Hause. Ausatmen. Ich habe nur ein wenig ahnen können, dass das noch lange nicht das Ende der Fahnenstange war. Weiter atmen.
Die folgenden Tage wurde aus der anfänglichen Unsicherheit eine richtige Angst und das morgendliche Bringen ein riesen Kraftakt für uns alle. Aus irgendeinem Grund war das Neue irgendwie zu schnell, zu weit, zu groß und endete in einer kompletten Überforderung mit allem Pipapo. Mittags holte ich ein völlig erschöpftes, gar nicht glückliches Kind vom sonnigen Schulhof ab. Abends im Bett kullerten dicke Tränen und am Morgen danach folgte direkt nach dem Augen aufmachen die Frage: „Mama, ist heute Wochenende?“
Nach zwei Wochen waren wir alle mürbe: Das Kind und wir Eltern. Mir war nicht klar, wie unglücklich ein 6-jähriger sein kann und wie wütend und völlig schräg gelaunt zugleich.
Ich hab versucht ganz toll und ruhig zu bleiben. Das kann ich ja schon von berufswegen ganz ausgezeichnet, aber leider konnte ich das genau in diesem Moment gar nicht gut. Also saßen wir beide weinend eines morgens im rappelvollen Flur und haben überlegt, wie dass denn jetzt weiter gehen soll. Der Druck, dass das Kind da jetzt in den Klassenraum muss, wurde auch noch von Lehrerseite auf mich geschüttet und das Kind klammerte, dass mir die Luft weg blieb. „Oh man Jesper Juul, wo bist du denn in solchen Momenten? Gibt es dich eigentlich auch im Handtaschenformat zum Mitnehmen? Ich brauche dich nämlich genau jetzt“, dachte ich und ratterte wie wild, was jetzt am besten zu tun sei. „Ich nehme den heute wieder mit“, und während ich das laut und bestimmt mit bibberndem Kind an der Hand zur Lehrerin sage, pöbelt diese mich nur wirsch an: „Nee, nee dit jeht nich. Dann ist das ja jeden Tag so und was machen wir dann? Ick hab jetzt auch keene Zeit für solche Faxen.“ „Ja, das weiss ich. Aber heute nehm‘ ich mein Kind mit nach Hause – morgen sehen wir weiter.“ Schwupp – schon war die Tür zu. Das Kind froh aus der Nummer raus zu sein, ich um 8.15 Uhr schon so am Ende, dass ich mich zwischen völliger Verzweiflung, Wut und Heulen wollen nicht so recht entscheiden konnte, was jetzt taktisch als Erstes am besten wäre.
Croissants und ein Kaffee in der Sonne sind es dann geworden. Zwei Stunden sind wir schweigend Hand in Hand durch den Kiez gelaufen – in meinen Arm gekuschelt haben wir den Leuten beim zur Arbeit laufen zugesehen und dann entschieden: Es muss ein kleines Tier her. Eines, das Mut macht und in die Hosentasche passt – und helfen kann, wenn einem mal wieder die Knie wackeln. Die große Muffe kam gar nicht wegen der Schule – nein, nein es war der Schulhof. Auf dem war das Kind nämlich drei Mal verloren gegangen, hatte weder Patenkinder noch den Weg ins Klassenzimmer wieder gefunden und eben nicht mutig genug für die Schule. So bekam das ganze einen Namen und nach kurzem suchen war Fred gefunden – und Fred passt jetzt auf!
Der Plan ging tatsächlich auf. Hätte Jesper auch das Kind in den nächsten Laden geschleppt, um ihm eine Stoffmaus zu kaufen? Pädagogisch bestimmt eine 1a Nummer, oder? Am nächsten Morgen ging das Kind mit der Maus jedenfalls zur Lehrerin und erzählte ihr, warum es nun Fred gibt und dass er große Angst vorm Verloren gehen hat und dass das der Grund war, warum er jeden morgen lieber nicht wieder kommen wollte.
Hört sich alles nicht so spektakulär an, nech? Kind ist unglücklich, man kauft ein ökologisch korrektes Kuscheltier und zack! schnurrt der Alltag einer 5-köpfigen Familie mit Schulkind wieder wie am Schnürrchen. Ganz so ist es ja nicht, aber in Berlin hat es erstmal trotzdem Riesenrums an diesem Morgen gegeben. Gesteinsbrocken, vielleicht sogar ein ganzes Gebirge sind von meinen Schultern gerollt. Ohne heulen, ohne an mir zu klammern, blieb das Kind im Klassenraum. Fröhlich winkend bin ich schnell um die Ecke, um dann erstmal selber zu heulen. Was für ein Wahnsinn.
Nach der Heulphase des Kindes folgte nun fast nahtlos die Punk-Ära: Nachdem Fred nämlich für ordentlich Mut aus der Hosentasche heraus gesorgt hatte, wurde mein Kind zum coolen-Hände-in -die-Hosentaschen super Typ. Flippte sich so durch die Tage, affektierte sich so durch die Gegend, machte den dicken Klaus vor seinen kleinen Brüdern und auch Türen blieben nicht verschont und wurden nur noch per pedes, statt via Handschlag geöffnet. Alles extreeeeeem lässig. Wir kamen aus dem Augenrollen nicht mehr heraus. Good job Fred, aber das war vielleicht dann doch zu viel des Guten.Wo ist mein altes, tolles Kind und wer ist der Rüpel da links neben mir, den ich täglich freiwillig mittags von der Schule abhole?
Oh ihr alten Hasen da draußen, die ihr schon lange Schulkinder habt – das war bei euch auch so oder? Das geht auch wieder vorbei, nicht war? Genau wie das Heulen und Zähne bibbern, stimmts? Heute ist es eher so:
„Alter“…“kraaaaas“ ….“geeeeeeeeht’s noch?“
-Ist jetzt immer ganz gemütlich abends bei uns am Abendbrottisch.
Jajaja. Schule ist was ganz Tolles. Fast hätte ich meinen Humor und den Verstand verloren – denn nicht nur, dass mich das morgendliche, frühe Aufstehen mürbe macht und mir langsam die Ideen für leckere Pausenbrote ausgehen (hallo Pinterest), ich komme mit den Verrücktheiten meines Kindes und den symphatisch-furchtbaren Veränderungen auch eher weniger zurecht. Alles braucht Zeit, jaja Jesper ich weiß. Aber einfach finde ich diesen neuen Schritt nicht.
Jetzt sind erstmal Ferien. Zeit, um dem „Möchtegernpubertisten“ mal wieder ein paar Tischmanieren und Regeln zu erklären.
So geht’s ja nu nicht, Aaaaaaalter!