Ich weiß nicht mehr genau, seit wann ich Sara kenne, aber es sind viele Jahre vollgestopft mit Erinnerungen an lange Nächte, guten Döner und das, was man das wilde junge Leben nennt. Wir haben zusammen Bagels belegt, in vollgerauchten Kellern nach Luft geschnappt und Freibadsonne getankt, zwischendurch zwei mal New York und wieder zurück, auch an erste Gehversuche auf mittelhohen Hacken erinnere ich mich, wegen Dresscodes, von denen wir nicht viel verstanden. Immer dabei waren Saras Texte, ihr Kopfkino, das ständige Analysieren unserer Zeit und das Talent, jeden komplexen Gedanken in noch komplexere Sätze zu verpacken, aber in solche, die sich bis heute trotz aller Schlagkraft ganz leicht anfühlen. Für mich ist Sara eine der begabtesten Autorinnen/Schreiberinnen/wieauchimmermandasnennensoll der Stadt, vielleicht sogar die beste von allen. Neben ihrem Studium der Kulturwissenschaften, pflegt sie außerdem Finding Berlin, ein visuelles Magazin über Berlin und seine Kultur. Es folgen daher ganz selbstverständlich: Fünf Bücher, die Sara Shakur geprägt haben.
Darunter Sören Kierkegaard, John Niven, Orson Scott Card, Ben Lerner und Yann Martel:
Life of Pi (Yann Martel)
Ich kam gerade mit einem allergischen Schock-Notfall aus dem Flugzeug – nach 6 Monaten Reise – in Kuala Lumpur an. Mein letzter Stopp vor dem Heimflug. Und wie es jeder aus seinen dreadlockigen Backpacker-Phasen kennt, immer mit einem Buch unterwegs. Nur hatte ich diesmal keins mehr, was ich nicht schon gelesen hatte. Ich vergammelte auf der Hostelcouch, schaute endlose Re-Runs auf Nat Geographic Adventure (der „Backpacker-Channel“, wie ich ihn gütig nenne). Eine wunderschöne und unglaublich sympathische Schweizerin drückte mir dann aus Mitleid (und, wie ich bis heute noch hoffe, auch aus unendlicher Zuneigung) Life of Pi in die Hand.
Jeder kennt den Roman von Yann Martel, aber die meisten leider nur als Film. Nicht, dass der Film schlecht gewesen wäre. Als 3D-Hollywood-Blockbuster konnte er schon einiges. Aber es ist nicht nur die fantastisch-abenteuerliche Geschichte des jungen Inders Pi, der mit einem Tiger durch den Ozean schippert und überleben muss, die mich in ihren Bann gezogen hat, sondern vor allem die philosophischen und theoretischen Fragen zu Religion und menschlichem Glauben, die sich durch die Erzählung ziehen. Und die sind leider in der Verfilmung so sang- und klanglos untergegangen wie der Dampfer, mit dem sich Pi und sein Zoo auf den Weg von Indien nach Kanada machen.
Martel beweist in Life of Pi vor allem, was es bedeutet, einen selbst-reflexiven, post-modernen Roman zu entwerfen, der in vielen Schichten und auf unterschiedlichen Ebenen das Verhältnis von menschlichen Überlebens-Narrativen – wie den Glauben an einen Gott – zum Romanschreiben selbst verknüpft und sodann auflöst. Und dabei ist das ganze in Humor, Leidenschaft und atemberaubende Spannung gewickelt.Ich habe den Roman 2011 gelesen, und schon damals hat er mein Leben maßgeblich beeinflusst. Nach einem schweren Schicksalsschlag Jahre später habe ich ihn wieder zu Hand genommen und das Gefühl gehabt, die Welt durch die Worte von Pi besser verstehen zu können, und endlich angefangen, es wie er zu machen: an eine andere Geschichte als die kalte Realität zu glauben.
Tagebuch des Verführers (Sören Kierkegaard)
Das Oldschool-Cover strahlte mir auf einem Flohmarkt entgegen und weil ich den Namen Kierkegaard kannte, aber nie mit irgendwas in Verbindung setzen konnte, habe ich es für 2 Euro gekauft.
Dann lag es für eine Weile bei mir rum, so wie alle meine Träume und die schmutzige Wäsche, bis es nach Portugal ging. Ich lese grundsätzlich nur im Urlaub weil ich seit drei Jahren nach anstrengenden Tagen wie ein Stein zu Bett falle und meine Freizeit im Alltag lieber damit verbringe, mir NICHT den Kopf gegen die Wand zu hauen. Aber hey, wenigstens Urlaub.
Das „Tagebuch“ ist nichts für schwache Frauenherzen. Der Protagonist Johannes treibt ein ziemlich methodisches Verführungsspiel mit der jungen Cordelia. Man würde sagen, es geht ihm schamlos um Sex; aber so einfach ist es nicht. Und Sex kommt auch nie explizit vor, das würde sich auch nicht für einen Roman um die Jahrhundertwende gehören.
In grundlegend philosophischen Abhandlungen erklärt Johannes stattdessen, was den ästhetischen Reiz einer Frau ausmacht – und wieso man sie fallen lassen muss, sobald man sie erobert hat (Spoiler: weil nur dafür das Mädchen da ist und als entjungferte Frau keinen ästhetischen Wert mehr hat). Der reflektierende Casanova wird sicherlich keine Groupies bei den Feministinnen finden, und doch.. Genuss und Völlerei, nicht wegen der Liebe, sondern wegen der Ästhetik?
Dieses Ideal reizt ganz bestimmt viele junge Männer und Frauen auch heute noch zu den ein oder anderen Schandtaten der Leidenschaft. Ich musste das Buch ein paar Mal vor Wut über so viel schamlose Machoscheiße zur Seite legen und mir noch einen Pasteis de Nata in den Rachen schieben, aber ich war auch gleichzeitig fasziniert darüber, wie sehr dieser Johannes sein ethisch inkorrektes Spiel logisch und philosophisch rechtfertigen kann. Irgendwann nickt man dann zum eigenen Horror auch noch zustimmend mit. Dass Literatur das kann, ist schon ziemlich crazy.
10:04 (Ben Lerner)
Im letzten Jahr hat der Erzähler von 10:04 unerwartet literarische Erfolge feiern dürfen, wurde mit einer wahrscheinlich tödlichen Krankheit diagnostiziert und von seiner besten Freundin um die Zeugung eines Kindes gebeten. Alles spielt sich in einem New York zwischen krassen Regenstürmen und sozialer Labilität ab. Der Erzähler muss sich mit seiner eigenen Sterblichkeit und dem Elternsein in einer Stadt Unterwasser auseinandersetzen.
Es gibt keinen gerechten Weg, um die Komplexität, die Wahrheit, die Fiktion und das Poetische von 10:04 zu beschreiben. Für mich persönlich ist es ein revolutionärer Roman der Post-Moderne. Wie ein Bild von Escher schreibt er sich selbst. Und zwar aus der Perspektive eines Autors, der an seinem zweiten Roman arbeitet, der sich dann aber als genau der Roman herausstellt, den wir gerade in der Hand halten. Die Dichotomie Fakt/Fiktion wird so zerstört, dass das Buch wie in einem Kreis lesbar wird. Oder es ist eine Erzählung darüber, wie es eben ist, in New York einen zweiten Roman zu verfassen.Mir klappte die Kinnlade runter. Nicht nur, weil 10:04 ein Spontankauf aus Brooklyn war, den ich dann bei 25 Grad (November!) im Central Park genießen durfte. Dieser Roman ist originell, witzig, spannend und mitreißend in jedem Satz. Obwohl er sich zeitweise wie ein Monolog anfühlt, den ich selber vor dem Schlafen gehen gern führe, ist er so pointiert darin, die Phänomene unserer Zeit aufzugreifen und in wunderschöne Worte zu packen. Ben Lerner schafft es irgendwie prägnant einzufangen, wie es sich anfühlt, jetzt und heute am Leben zu sein; in einer Zeit, die sich oft anfühlt wie die Dämmerung unserer Zivilisation; in einer Zeit, in der die Vorstellung von einer Zukunft unsere Beziehung zu unserer Gegenwart und zu unserer Vergangenheit gleichermaßen ändert.
Lerner ist ein Dichter, und auch dieses Wort passt wieder nicht. Er ist ein literarischer Zauberer. Ähnlich wie bei Life of Pi geht es, ganz „post-“ eben, um das Erzählen selbst, um viele Romane, die in seinem Roman stecken, und um die dazugehörigen Narrative. Lerner’s Fazit ist am Ende so etwas wie „das Leben ist zu kurz, um das Leben nur auf eine Art und Weise zu erzählen“, aber wenn ich es schreibe, fühlt sich das so an als würde ich einen Baumwollfaden als Zahnseide benutzen. Wenn man ein Buch lesen sollte, dann ist es dieses.(Lerner’s Debütroman, „Leaving The Atocha Station“, sollte auch erwähnt werden – es ist fast genauso großartig wie 10:04)
Kill Your Friends (John Niven)
Die 90er: Britpop ist am Zenit. Stelfox ist A&R Manager bei einem Plattenlabel und kämpft sich durch die Musikindustrie, wo alles irgendwie auf Timing ankommt und der beschissene Geschmack der Öffentlichkeit verachtet wird. Von Geilheit, Gier und Kokain getrieben, sucht Stelfox auf der ganzen Welt nach dem nächsten Hit. Und feiert dabei eine überzogene Orgie der Selbstbeweihräucherung. Aber das läuft nicht für immer: die Musikbranche geht den Bach runter. Stelfox muss etwas pikantere Methoden anwenden, um seine Karriere zu retten.Alter, Niven spinnt. Dunkel, satirisch und fies ist Kill Your Friends. Ach ja – und zum Kotzen witzig. Wer ab und zu der Hampel sein will, der in der U-Bahn verstopft vor sich hin grunzt, weil er sich das Lachen nicht mehr verkneifen kann: bitte mal Kill Your Friends aufschlagen. Zynisch nach meinem Geschmack. Für mich ist Kill Your Friends das britische Pendant zu 39,90, aber irgendwie noch inzestuös gepaart mit Wolves of Wallstreet. Herrlich böse und perfekt für die Tage, an denen man sonst Louie CK anmachen würde.
Ender’s Game (Orson Scott Card)
Ich bin absoluter Science-Fiction Fan. Für mich ist das die kontemporäre Fabel, die mit Mut zur Vision Gesellschaftsentwürfe formulieren darf, ohne gleich als unrealistisch verworfen zu werden. Ender’s Game ist eigentlich nur Teil einer riesigen Serie, und auch hier wieder hat die Verfilmung aus 2013 es absolut nicht geschafft, an den Gehalt und die Tiefe dieses leichten und schönen Romans zu kommen. Ich habe Ender’s Game in zwei Tagen verschlungen.Der Roman erzählt die Geschichte des Jungen Ender Wiggin, der in eine Militärakademie („Battle School“) im Orbit über der Erde geschickt wird. Sie wurde errichtet, um Menschen zu Soldaten auszubilden, damit sie eines Tages gegen die riesige Alienrasse der „Buggers“ kämpfen können. Ender versucht sein bestes, um diese schwere Ausbildung zu überstehen, während sein Bruder und seine Schwester auf der Erde versuchen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Für Ender ist das Training hart – er bekommt einen besonderen Lehrer, der ihm beiseite stehen wird, um die Erde vor der Dritten Invasion zu schützen.
Ender’s Game wurde 1985 geschrieben und wird heute eigentlich als Jugendbuch gehandelt, aber das war Harry Potter auch. Und wisst ihr was? Selber Schuld wenn ihr’s nicht gelesen habt.Ich lese auch komplizierte Science-Fiction, aber die meisten würden sich niemals durch JG Ballard oder Frank Herberts „Dune“ Serie durchkämpfen, deshalb: wer mit Sci-Fi nichts anfangen kann, der startet einfach hier und lässt sich eines Besseren belehren.