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Das Gegenteil von Angst 2016

05.01.2016 Leben

chopinGestern Nacht habe ich zum allerersten Mal fast alleine in meiner Wohnung geschlafen, Lio im Zimmer nebenan und eigentlich hätte es mucksmäuschen still sein sollen. War es aber nicht, jedenfalls nicht in meinem Kopf und womöglich sind 85 Stunden Dexter daran Schuld. Ich sah mich jedenfalls schon vor fremder DNA triefend auf dem Wohnzimmerboden liegen, während ich es mit Meditation und selbsterzählten Flachwitzen gegen die Furcht versuchte. Mein eigener Herzschlag im Ohr war dabei nur wenig hilfreich, weshalb ich irgendwann aufgab, aufstand und überall das Licht und auch eine heimliche Zigarette anmachte, die ich mir durch die Lunge jagte, als wäre es die letzte dieser Welt. Im Klassikradio lief Chopin. Nach Wahnsinn kommt wohl manchmal Glück, jedenfalls verbuchte ich das endlose Pianokonzert als aufmunternden Arschtritt vom Universum und blieb ganz ruhig sitzen, statt mich vor Panik zu übergeben, wie ich es nämlich eigentlich vorhatte. Die Scheiße muss raus aus meinem Körper, dachte ich noch. Die Gesamtscheiße. Aber Frédéric war ja plötzlich da; es gibt keinen besseren Gefährten, wenn man kurz davor ist, Mandalas zu malen.

„Die drei berühmtesten Ärzte der ganzen Insel haben mich untersucht; der eine beschnupperte, was ich ausspuckte, der zweite klopfte dort, von wo ich spuckte, der dritte befühlte und horchte, wie ich spuckte. Der eine sagte, ich sei krepiert, der zweite meinte, dass ich krepiere, der dritte, dass ich krepieren werde.“ – er hätte mich verstanden, genau jetzt. Nach der Etüde op. 25 (1837) ließ ich mir ein Schaumbad ein und beschloss, mich nie wieder zu fürchten. Das Gegenteil von Angst 2016, so würde man meine Memoiren betiteln, sollte gerade doch jemand versuchen mit der Kreditkarte in meine Haustür einzuchecken. Schade wäre es schon gewesen, aber immerhin hätte ich der adipösen Engels-Schar da oben von einem Wahnsinns-Lebensritt erzählen können. In fast 28 Jahren hätte ich durchaus ein paar Mal den imaginären Schwanz einziehen sollen, er wäre mir mit großer Wahrscheinlichkeit seltener gebrochen worden, aber was hätte ich jetzt davon. Viel Durchschnitt, aber wenig wahre Freuden und Abenteuer schon gar nicht. Es kann nicht falsch sein, etwas zu wagen, wenn man begreift, dass es nicht darum geht, zu warten, sondern zu machen. Ich hatte mein Haar gerade mit Pfirsich-Spülung eingeweicht, als mein Handy im Waschbecken fiepte. Ich ging nur ran, weil ich keine Lust hatte mich mit dem Duschkopf auseinanderzusetzen, der Winter war gerade eingebrochen und jede Erhebung aus dem lauwarmen Wasser hätte mir die Nippel in Bleikugeln und sämtliche Armhaare in Eiskristalle verwandelt. Anne. Eine jener Personen, die chronisch unglücklich sind, weil sie denken, irgendwas stimme nicht mit ihnen. Auch heute Abend. Dabei bin ich mir sicher, es ist genau umgekehrt. Mit der Welt stimmt was nicht, mit Anne ist alles in bester Ordnung. Wie viele Leute fristen ihr Dasein mit geräuschlosem Herumgeplätscher in ruhigen Gewässern, damit, „ok“ zu sein. Sie finden sich ab, statt das Glück zu finden. Wir nicht. Wir suchen danach. Ich frage Anna, ob sie so sein will, die Frau, die immer Mittwochs mit perfekter Föhnfrisur an der Supermarktkasse steht, apathisch grinst und labil grüßt, sich nie Gedanken macht und funktioniert, weil lebendig sein ihr zweifelsohne eine Scheißangst einjagen würde. Natürlich nicht. Dann sei mutig und leide, damit sich was verändern kann. 50 Cent in das Phrasenschwein, aber ein bisschen Wahrheit ist schon dran. Ohne Dunkel kein Licht – mit Gruß von Dexter. Es ist egal, was hättekönntemüsste, solange wir uns permanent in Schockstarre befinden und einbetoniert sind im Alltag. Jeder muss mal raus und zwar besser früher als später, sonst frisst die Dumpfheit die Sinne auf. Ich fraß mittlerweile das siebte Toastbrot mit Remoulade, von gepflegtem Essen konnte keine Rede mehr sein. Anne kaute währenddessen mein Ohr ab und ließ sich meine Standpauke überraschend gut schmecken. Ich hörte ein Klick, nicht nur im Hörer, sondern auch in ihrem Hirn. Ich gehe jetzt raus und spucke der verfickten Angst in ihr Gesicht, sagte sie noch. Anne wird morgen weder mit ihrem Freund Schluss machen, noch den Job kündigen. Sie wird in ein Flugzeug steigen, das kleiner ist als ein blinkender Autoscooter und sich die Welt zum allerersten Mal von oben anschauen. Ihr Puls wird im Trommelfell drücken, sie wird sich triefend vor eigener DNA auf dem Landestreifen liegen sehen und mehr Angst haben als die Föhnfrisur. Aber sie wird sich lebendig fühlen. Und wenn sie wieder am Boden ist, fängt 2016 erst richtig an, das Jahr, das ohne Angst auskommt.

 

19 Kommentare

  1. Julia-Maria

    Ach schöner Text. Vielleicht war die Dexter-Angst rein metaphorisch und ich habs nicht geschnallt. Vermutlich aber der Aufhänger hier. Ich jedenfalls liege derzeit bibbernd im Bett – selbst neben dem Mann (der schläft sehr tief) – und fürchte mich vor der Zombieapokalypse (Walking Dead) und auch vor wahrscheinlicherem Krieg zwischen Nicht-Untoten (Nachrichten).

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  2. Patti

    Nikeeee, JA MAAAN! Ich bin krank, lieg flach und dennoch geht’s jetz etwas besser.. Du kleine fee

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  3. Franzi

    seit langer zeit hader ich mit so vielen tiefen entscheidungen, die längst hätten gefällt werden müssen, das is mir klar und jedem der mich gut kennt, aber ich hab es aus angst einfach nicht gemacht. beim lesen deines textes fällt mir auf, dass man dadurch einfach ein möglicherweise viel besseres leben verpasst. danke nike! manchmal dient ein anderer kopf als der nötige staubwedel für den eigenen.

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  4. Anna

    Ich lese gerade „der König verneigt sich und tötet“ von Herta Müller und dein schreibstil erinnert mich an den ihrigen. Vielleicht wäre das Buch ja was für dich? Und Danke für den schönen text! Ich kenne dieses Gefühl leider auch!

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  5. Rike

    klasse, überhaupt nicht trocken oder öde. ich mag deine ideen mit denen du deinen texten leben einhauchst 🙂 go, anne!

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  6. Saskia

    Mit Frederic muss ich es dann wohl auch mal probieren…
    Wie Deine Worte, gefällt mir auch Deine sehr passende Collage mal wieder sûper!

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