Lio hat von Oma einen Bademantel geschenkt bekommen, das ist jetzt fünf Wochen und dreiunddreißig Waschgänge her. Es handelt sich dabei selbstredend um keinen herkömmlicher Bademantel, denn wenn es so wäre, dann hätten wir am Morgen, und zwar an jedem einzelnen, vielleicht eine Zu-Spät-Komm-Sorge weniger. Nein, es ist ein ganz besonderer, ein blauer mit weißen Sternen drauf und magischen Kräften drin. Einer, den man einmal übergestülpt aus unerfindlichen Gründen nicht mehr ausziehen kann, komme was wolle, er muss immer mit, ganz gleich ob Monsieur gerade nackend aus der Wanne steigt oder längst Daunenjacken-behangen zum Abmarsch auf den Spielplatz steckt. Mit mütterlichem Protest kommt man da selbst in Erklärbär-Sprache nicht weiter (Lio schaut bloß angewidert aus der Wäsche, wenn ich ihn mit fiepsiger Stimme zu bezirzen versuche, ist ja schließlich kein Baby mehr) – das Kind hat jetzt einen eigenen Willen und ist sturer als jeder Bock auf dem Berg.
In solchen Fällen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man passt sich der Norm an und versucht es mit Strenge, oder aber man pfeift drauf, nicht nur des Löwenjungenherzens zuliebe, sondern auch aus taktischen Gründen, die vornehmlich der Schonung der eigenen Nerven dienen. Ich bin ja sowieso Pro-Teilzeitegoimsus. Nach einer ganzen Woche des pädagogisch wertvollen Rumprobierens („ihr 18 Monate altes Kind braucht jetzt klare Grenzen, bla“) entschied ich mich schließlich für die totale Kapitulation. Und so kommt es, dass Lio und sein Zaubermantel derzeit ausschließlich im Doppelpack die Welt, Würstchenregale und sogar den Wedding erkunden und dabei unfreiwillig an Udo Jürgens wilde Klavierzeiten oder im schlimmsten Fall sogar Hugh Hefners Playboy Mansion erinnern. Der Legende nach sollen ja aber auch berühmte Schriftsteller wie Bukowski ihr halbes Leben im Frottee-Outfit verbracht haben, warum also nicht auch Lio. Sehe ich ganz genau so, übrigens sehr zum Leidwesen einiger elitärer Herrschaften, die sich in ihrer Freizeit gern in Delikatessen-Abteilungen tummeln, mit 3-Jährigem Ralph Lauren-Polokragen an der Hand. Es hagelte sogar schon „Die arme Frau hat weder ihr Leben, noch ihren Sohn im Griff“-Blicke, aber Lio und ich, wir bleiben dann ganz gelassen, spielen Verstecken hinter den Crutons und lachen halb über uns, halb über Hobby-Miesepeter, denen Freuden wie diese, nämlich im besternten Bademantel durch den Supermarkt zu flanieren, auf Ewig verwehrt bleiben werden.
Am letzten Sonntag haben wir zwei es womöglich ein wenig auf die Spitze getrieben, Menschen kamen dabei aber nicht zu Schaden, bloß Laugenbrezeln. Weil ich nach einer durchgezahnten Nacht an nichts anderes als Schafskäsebötchen vom Lieblingsbäcker denken konnte und außerdem vergessen hatte, leicht kaubares Graubrot zu besorgen, schaffte Lio es vor der ersten Früh-Hunger-Attacke jedenfalls nicht mehr aus besagtem Bademantel heraus, während ich selbst mich nicht vom altpinken Jogginganzug trennen konnte; womöglich aus solidarischen Gedanken meines Kindes gegenüber, zwei Deppen sind schließlich immer besser als einer alleine. Zehn Minuten und einen Brötchenkauf später entschieden wir dann gemeinsam, dass der Heimweg auf leeren Magen unüberwindbar werden würden, weshalb wir kurzer Hand beim Bäcker Platz nahmen und eine ganze Stunde lang energisch schlemmten. Ab und an biss ich in Lios Brezel, die meiste Zeit über biss Lio in mein Schafskäsebötchen. Dann wieder ein kurzer Blick vom Nachbartisch, erst skeptisch und dann hoch erfreut. „Det is ja fast ne Rarität, det n Kind och mal wat Fettiges naschen darf, und dann och noch im Bademantel, Kleener, jenieß et, bis die Gesellschaft dirn Strick draus dreht!“. Lio, hab ich dann gesagt, echt mal. Genieß es. Bevor wir nämlich Vorlieb mit dem Ernst des Lebens nehmen, bringe ich dir heute erstmal bei, wie man anständig Regeln bricht.