Hilal Sezgin ist einer dieser Menschen, von denen man sich am liebsten klammheimlich ein Scheibchen abschneiden würde, um ein paar ihrer guten Eigenschaften zu mopsen. Zur Auswahl stehen Dinge wie Engagement für Flüchtlinge, eine pflanzenbasierte Lebensweise und ein großes Herz für den Feminismus.
Die Frau hat nämlich nicht nur viel Kluges zu sagen, sondern lässt ihren Worten auch eine Menge Taten folgen. Ach so, und sie lebt natürlich zusammen mit einer Schafsherde und Ziegen auf einem Hof in der Lüneburger Heide, ist klar. Was Hilal übers Türaufhalten denkt, ob man in ihrem Beisein ein Steak bestellen darf und was Frauen an der Bushaltestelle und in Modekatalogen gemeinsam haben, erfahrt ihr hier.
Hallo Hilal, hattest du diese Woche ein schönes Erlebnis, das du mit uns teilen möchtest?
Am Wochenende habe ich etwas Ungewöhnliches und Schönes erlebt. Eine Frau, die ich bis dahin gar nicht kannte, feierte ihren 60. Geburtstag. Sie bestellte ein veganes Buffet beim Caterer, lud eine Menge Freundinnen und Verwandte ein – und mich als Rednerin, zu einem 25-minütigen Vortrag über Veganismus und Tierrechte. Das schenkte sie sich selbst zum Geburtstag, wie sie sagte. Die meisten Gäste aßen üblicherweise Fleisch und würden sonst wohl nicht zu einem solchen Vortrag kommen, aber in diesem Kontext probierten sie veganes Essen einmal aus und hörten mir ganz aufmerksam zu. Man sah es an ihren Gesichtern, dass sie „mitgingen“ und zumindest für diese Zeitspanne einmal darüber nachdachten, ob das eigentlich okay ist, wie wir Tiere eigentlich andauernd benutzen. Die Jubilarin war total glücklich, ich war von ihrer Freude wiederum gerührt, und als wir uns verabschiedeten, umarmten wir uns und hatten beide feuchte Augen.
Du kämpfst gegen Islamphobie, bist Tierrechtlerin, Veganerin, Feministin und engagierst dich in der Flüchtlingshilfe. Woher nimmst du die Kraft, an so vielen Fronten gleichzeitig zu kämpfen?
Na ja, ob „kämpfen“ das richtige Wort ist. Als Publizistin versuche ich diese Themen aufzugreifen und daran mitzuarbeiten, dass solche Ungerechtigkeiten nicht über all der „offiziellen Politik“ vergessen werden. Das ist in der Tat bisweilen sehr frustrierend, zum Beispiel beim Thema Flüchtlinge: Wenn du siehst, wie sich die Institutionen, die eigentlich verantwortlich wären, nicht angemessen um Menschen kümmern. Oder beim Thema Tiere: Wenn ich diese Agrarzeitschriften durchlese, die ich abonniert habe, um zu sehen, was in der Schweine- oder Hühnerbranche – kann man das so sagen? Aber wie sonst? – geschieht. Das ist alles entsetzlich. Ich denke, alle irgendwie politisch Aktiven empfinden das so. Aber die Kraft gewinnen wir voneinander. Menschen zu treffen, denen all das nicht egal ist, sondern die versuchen, eine gerechtere Gesellschaft für Menschen und Tiere aufzubauen – mit solchen Menschen zusammenzuarbeiten und befreundet zu sein, das ist wiederum sehr, sehr schön.
Du bist eine Frau und hast einen muslimischen Glauben. Hast du in Deutschland einen schwereren Stand als ein – sagen wir – Mann mit christlichem Glauben?
Klar. Jeder Mensch, der erkennbar einen anderen als einen ein bio-deutschen Hintergrund hat, erlebt eine Menge Rassismus; nicht nur wegen dem Glauben, man wird einfach anhand des Aussehens und des Namens etc. so kategorisiert. Ein Soziologe erzählte mir mal, dass Menschen mit Migrationshintergrund bis zu 20x mehr an diesen „kleinen“ Gehässigkeiten und alltäglichen Feindseligkeiten erfahren als Einheimische sozusagen. Das ist also der Alltagsrassismus. In meinem Beruf allerdings fühle ich mich vor allem als Frau benachteiligt. Schau Dir mal die Lehrstühle für Philosophie (das hab ich ursprünglich studiert) in Deutschland an: Das sind fast ausnahmslos männliche Professoren. Und schau mal in die Feuilletons und Kommentarspalten der großen Zeitungen: Da schreiben viel mehr Männer als Frauen. Neulich las ich bei einer Kollegin: Im Journalismus gibt’s nicht nur ’ne Glasdecke (glass ceiling), da sitzt du in ’nem kompletten Glaskasten!
Was magst du an dir besonders?
Dass ich lernfähig bin, auch noch als Erwachsene. Überhaupt: dass wir Menschen uns weiterentwickeln können. Besonders gerne sehe ich das, was ich in den letzten Jahren gelernt habe, von dem ich vorher nie gedacht hätte, dass ich’s könnte. Schafen Spritzen geben zum Beispiel.
Darf man dir als Mann die Tür aufhalten oder empfindest du das als Affront?
Also das kommt ganz auf den Kontext an. Wenn das so ein schmieriges Getue ist, um Kavalier zu spielen, während der Typ sonst nicht mal weiß, wo der Kaffee in der Büroküche steht, und seinen Kolleginnen in den Konferenzen nicht richtig zuhört, soll er die Tür ruhig zu lassen. Wenn man beim Gehen gerade in ein Gespräch vertieft ist, und dann macht man dem/der anderen aus Höflichkeit auf – prima. Ein netter Mann lässt sich übrigens auch mal die Tür aufhalten und geht durch, ohne zu denken, dass ihm dabei gleich die Krawatte abgeschnitten wird.
Ist es aus feministischer Sicht ein Unterschied, ob eine lesbische Frau sich Dessous für ihre Partnerin kauft oder eine heterosexuelle Frau solche für ihren Mann?
Darf ich bei der Frage passen? Ich denke so wenig über Dessous nach, da fehlt mir jetzt echt die Grundlage. Ich stelle aber eine Gegenfrage, über die ich wirklich oft nachdenke: Wieso ist die Körperhaltung von Frauen und Männern so unterschiedlich, und wieso ist es in den letzten Jahren Mode geworden, dass auch erwachsene Frauen mit einwärts gedrehten oder voreinander verschränkten Beinen dastehen, so dass sie eigentlich weder einen festen Stand haben noch sofort loslaufen können? Das ist so eine mädchenhafte Pose, hoppla, ich kleines Ding wackele hier ganz zaghaft und tolpatschig durch die Welt. Was soll das? Schau Dir mal einen Modekatalog durch, wie Männern und Frauen dastehen. Es ist zum Kotzen. An der Bushaltestelle allerdings ganz genauso.
Kann Feminismus Frauen auch schaden?
Ich glaube, jede politische Erkenntnis oder jedes Anliegen kann sich potentiell auch gegen den jeweiligen Menschen richten, wenn es dazu führt, dass er oder sie sozusagen zu hart mit sich ins Gericht geht, sich zu viel abverlangt oder meint, alle Erkenntnisse gleich eins zu eins ins eigene Leben übersetzen zu müssen. Betonung auf: „müssen“. Da komme ich doch noch mal auf die Dessous zurück: Wenn eine Frau meinen würde, als Feministin dürfe sie keine Dessous tragen, obwohl dies ihren sexuellen Wünschen entspricht, wär’s traurig. Wenn die Erkenntnis, dass Frauen in unserer Kultur oft als Deko oder Sexualobjekt fungieren, keinerlei Auswirkungen auf das Leben einer Feministin hätten, wär’s allerdings auch traurig. Es geht darum, die richtige Balance zu finden zwischen allgemeinem politischem Anspruch und dem konkreten Menschen, der man nun mal ist, auch geprägt durch die Gesellschaft, die man in vielem kritisiert.
Warum fällt es vielen Menschen so schwer, für ein Schwein dieselbe Empathie aufzubringen wie für einen Hund?
Ich glaube gar nicht, dass es ihnen schwer fällt, sondern dass es sehr viele Mechanismen gibt, die umgekehrt erst verhindern, dass sie es tun. Wir ziehen so viele begriffliche und ethische Grenzen – zum Beispiel, wenn wir sagen, das seien ja „nur Nutztiere“. Völlig blöder Begriff, denn so was klebt dem Schwein ja nicht von Geburt an auf dem Rücken – aber es ist eine Kategorie, die hilft, die Empathie einzudämmen und der naheliegenden Einsicht einen Riegel vorzuschieben, dass ein Schwein, wie ein Fisch, wie eine Pute, ein Tier ist, das fühlt, erlebt und leben will.
Warum haben Tiere als Lebewesen, die soziale Fähigkeiten haben und Schmerz und Trauer empfinden können, in unserer Gesellschaft keine existenzsichernden Rechte?
Tja, warum gibt es Privilegien, und warum werden sie lange von Gesetzen sanktioniert, bis genügend Leute erfolgreich dagegen revoltieren? Es ist bequem für uns Menschen, Tiere zu nutzen und zu benutzen für alles Mögliche, als Statusobjekt, als Speise, als Versuchsobjekt, als Langeweilervertreiber sonntags im Zoo… Und ich glaube, es gibt noch einen weiteren Grund: Indem wir Macht über Tiere ausüben und uns dazu berechtigt fühlen, können wir uns als etwas Besseres ansehen als sie. Es ist also nicht nur so, dass wir Tiere benutzen, weil wir uns als „höhere“ Wesen ansehen, sondern auch umgekehrt: Indem wir uns von ihnen distanzieren, fühlen wir uns überlegen. Ethisch gesehen sind wir da quasi noch vor Darwin stecken geblieben: Dass wir mit den anderen Tieren verwandt sind, in vielen Hinsichten gemeinsame Weisen haben, diese Welt zu erleben und in ihr leben zu wollen, das haben wir noch nicht wirklich an uns herangelassen.
Kannst du mit jemandem befreundet sein, der sich neben dir im Restaurant ein Steak bestellt?
Viele meiner Freunde essen Tiere. Man kann ja nicht alle Leute aus seinem Leben stoßen, die – genau wie ich – in einer fleischessenden Umgebung sozialisiert wurden, sich davon aber nicht verabschieden wollen. Und Menschen haben ja auch ganz unterschiedliche liebenswerte Eigenschaften; manche denken über die Rechte von Tieren (noch?) nicht nach, haben aber ansonsten ein Herz aus Gold. Ich versuche, die Freundschaften mit ihnen genauso eng zu halten wie mit Veganer_innen. Ich muss aber zugeben, unter Tierrechtler_innen entspanne ich mich auf eine Weise, wie mir das mit Fleischesser_innen nicht möglich ist. Ich meine jetzt diese ethischen, politischen Veganer_innen, den Menschen- und Tierrechte beide wichtig sind. In deren Gegenwart gibt es so ein innerliches Aufatmen. Du weißt, sie nehmen die Welt und ihre Ungerechtigkeiten ähnlich wahr, und um etwas daran zu ändern, ziehen wir an einem Strang.
Danke Hilal <3
Mehr von Hilal findet ihr hier: Facebook, Zeit Online, taz, Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung
Foto in der Collage & im Artikel von Ilona Habben