Manche Babies bleiben nur für einen kurzen Augenblick bei uns und trotzdem sind sie das größte Geschenk, das man je bekommen hat. Sulane (26) ist eine verwaiste Mama und findet, man müsse viel mehr über das Thema Sterben sprechen, weil es nunmal zum Leben dazu gehört. Weil es wichtig ist, Gefühle zu formulieren und vor allem, weil es hilft, nicht allein damit zu sein. Wir danken ihr von Herzen für ihren Gastbeitrag:
Sternenkinder werden die Babys genannt, die vor der Geburt, während oder nach der Geburt sterben. Meine Tochter Aja ist ein Sternenkind. Und ich bin ihre Mama. Eine verwaiste Mama. In den letzten Monaten bin ich durch Täler gegangen, bin über Hürden gestiegen und erklimme Schritt für Schritt Hügelchen für Hügelchen, die für mich momentan die Welt bedeuten. Eine Mama sein, ohne Mama-Sein, wie geht das?
Wenn ich an Aja denke, muss ich grinsen. Dann entspannt sich mein Gesicht, meine Gesichtszüge werden weich und Bilder fliegen durch meinen Kopf. Ich sehe mich von Außen, wie meine Hand auf dem runden Bauch ruht, ich sitze und beobachte, wie ihre kleinen Tritte mein T-Shirt aufwölben. Ich erinnere mich, wie sie getreten hat, wenn das kalte Duschwasser auf meine Zehen und Schienbeine gelaufen ist. Ich hab es geliebt, wenn sie und ihr Papa miteinander gespielt haben. Er am Bauch geruckelt hat und sie einige Sekunden später zurück getreten hat. Minutenlang. Und er hat so gelacht. Hat sie umarmt, wenn er hinter mir angekuschelt lag. Und der Moment, als er sie das erste Mal in meinem Bauch gespürt hat. Sie in seiner Handfläche angeschmiegt lag und er sie in den Schlaf gestreichelt hat. So liebevoll und stolz.
Dass ihre Nieren anders waren, wussten wir schon ab dem 4. Monat. Und wir wussten, dass sie so sein darf, wie sie war. Dass sie so lange in meinem Bauch wachsen darf, wie sie möchte, sie aber auch gehen darf, wenn sie will. Aja entschied sich, ganze 8 Monate in meinem Bauch zu wachsen, mit uns zu leben, in mir zu leben. Aber ihr Körperchen war so krank, dass sie außerhalb meines Bauches nicht leben konnte. Die Entscheidung zu treffen, sie 8 h nach der Geburt wieder gehen zu lassen, war der klarste Moment in meinem Leben. Kein Zögern, kein Zweifeln. Nur Liebe war da.
Ich erinnere mich aber auch an die Zeit danach. Wie ich auf Toilette saß, meinen weichen leeren Bauch in den Händen hielt und das erste Mal schluchzend um mein Baby weinte. Weil es nicht mehr da war. Einfach weg. Mein Bauch leer war. Ich leer war. Ich in ein Loch gefallen bin, wo nichts mehr war außer Traurigkeit und Schmerz, darüber, dass du nicht da bist Aja, bei uns. Ich vermiss dich so in meinem Bauch! Ich bin so traurig, dass ich dich nicht im Arm halten kann. Nicht schaukeln kann und du auf meinem Bauch einschlafen kannst. Dass ich deine Äuglein nicht gesehen habe, du nicht reagieren konntest mit deinen Händchen. Dein Herz hat so ruhig geschlagen auf meinem und hat so tapfer weitergeklopft auch ohne Maschinen. Da hat das Näschen schon ganz lange das letzte Mal tief ausgeatmet. Ich hab deine Schläfe geküsst und dein Köpfchen gehalten. Dein Papa hat seine Hand auf deinen Rücken gelegt. Ganz warm war er. Mit dem selben spitzen Popo wie dein Papa. Du hast die gleichen Lippen, die gleiche Stirn und die Augenbrauen wie er. Ich wünschte, ich hätte dir später sagen können, dass du sie dir nicht zupfen brauchst. Dass du schön bist, so wie du bist. Dass du als Baby die weichste Haut auf der Welt hattest und so viele dunkle Haare…
Diese Erinnerungen halte ich ganz doll fest, aus Angst nur eine Winzigkeit von ihr zu vergessen. Schaue mir die Fotos immer und immer wieder an, versuche mir jedes Detail einzuprägen. Wie soll eine Mutter, deren Körper sich 8 Monate auf das eigene Baby vorbereitet hat, von jetzt auf gleich verstehen, dass es kein Baby mehr gibt? Das Gehirn, das in einem lähmenden Schockzustand feststeckt und nur langsam beginnt zu verstehen. Das Herz, das von Liebe überströmt, gar nicht weiß wohin mit dem plötzlichen Gefühl der Leere. Wie ein dumpfes Pochen beginnt sich eine kalte Starre über einen zu legen. Umarmt einen ganz fest und nimmt einem die Luft. Sie schnürt einem die Kehle zu, verknotet den Bauch und verwischt den Verstand. Man strauchelt, lässt sich sinken und fällt in eine bodenlose Tiefe. Bis man wieder auftaucht, so als würde der Kopf die Wasseroberfläche durchstoßen und sich die Lungen nach ewigen Sekunden das erste Mal wieder mit Sauerstoff füllen. Man atmet wieder. Man steht auf und beginnt ganz zaghaft, die Trauer wie einen Rucksack bei sich zu tragen. Ganz liebevoll, auf dem Rücken, auf der Schulter, so wie es gerade geht. Mal macht sie sich ganz leicht und manchmal wieder ganz schwer, so dass man eine Pause machen muss, Puste holt und dann erst weitergeht. Und noch ein Stück weiter. Und dann merkt man, dass man immer längere Stücken ohne Pause schafft, man sich immer öfter leicht ums Herz fühlt, warm und ruhig. Und man begreift, dass man eine Mama ist. So oder so.
Text & Illustrationen: Sulane-Domira Mustafa.