Hillary Clinton schreibt gerade als erste US-amerikanische Präsidentschaftskandidatin Geschichte. Angela Merkel tat als erste deutsche Kanzlerin das Gleiche tat – löste aber keinen Luftballonregen und „Let’s make history“-Momente aus. Warum? Eine Spurensuche.
Seit letzter Woche steht fest: Hillary Clinton ist die demokratische Präsidentschaftskandidatin 2016. Auf dem Parteikonvent in Philadelphia regnete es massenhaft Luftballons, Gesichter strahlten – abgesehen von ein paar miesepetrigen Bernie Bros – und die schiere Bedeutsamkeit dieses historischen Augenblicks senkte sich wie eine warme Decke über alle Anwesenden. Clinton ist die erste US-Amerikanerin überhaupt, die zur Präsidentschaftskandidatin einer großen Partei gekürt wurde und ich muss sagen, auch mich reißt das Ganze mit. Hier wird Geschichte geschrieben!
Ich persönlich finde es aus verschiedenen Gründen gut, dass dieses Ereignis mit solchem Pomp zelebriert wurde. Vor allem aber deshalb, weil ich selbst so schlecht darin bin, historische Ereignisse auch als solche zu erkennen. Wirklich wahr! In Filmen ist das ja so: Die Heldin weiß einfach ganz genau, wenn gerade etwas wichtiges passiert. Wenn sie einen einzigartigen Moment erlebt, ein Moment, der historisch sein wird. Das Publikum weiß es übrigens auch, dank anschwellender Musik. Und im wahren Leben? Tja, da sieht es ganz anders aus. Da fehlt die Musik im Hintergrund, die uns sagt: Das ist jetzt wichtig! Daran musst/willst du dich noch Jahre später erinnern!
Fast elf Jahre Angela Merkel
Vor fast elf Jahren, am 22. November 2005, wurde Angela Merkel die erste Bundeskanzlerin, die Deutschland jemals hatte. Ein historischer Moment – an den ich keine bis bruchstückhafte Erinnerungen habe. Keine Ballons, keine empowernden Reden von bekannten Schauspielerinnen (und Katy Perry hat auch nicht gesungen). Ich war damals 17 und in der 12. Klasse, Leistungskurse Deutsch und Englisch. Fast elf Jahre Angela Merkel. In diesen elf Jahren habe ich Abitur gemacht, bin nach Frankreich gezogen, habe studiert, mein Studium abgeschlossen, bin nach Berlin gezogen und habe angefangen, zu arbeiten. Man könnte sagen: Ich bin in diesen elf Jahren erwachsen geworden. Oder was man so unter „erwachsen“ versteht.
An die Wahl 2005 habe ich nur verschwommene Erinnerungen. Eins weiß ich aber ganz genau: Das Ergebnis fand ich katastrophal. Ich wollte nicht, dass die CDU Deutschland regiert, ich wollte, dass Gerhard Schröder Kanzler bleibt. Was aus heutiger – feministisch-aufgeklärter – Perspektive betrachtet einigermaßen absurd ist, denn wenn einer der Prototyp des selbstgefälligen Macho-Politikers war, dann ja wohl „Acker“ (Schröders Spitzname auf dem Fußballfeld). Ein Mann, der das Frauen- und Familienministerium als „Ministerium für Gedöns“ abtat und sich überall als Alpha-Tier aufspielte. Keine Ahnung, warum ich Schröder gut fand – vielleicht, weil er unterhaltsam war?
Seinen Auftritt in der sogenannten „Elefantenrunde“ nach der Wahl fand ich dann aber trotzdem ziemlich peinlich. Wie er die eindeutige Wahlsiegerin Angela Merkel abkanzelte und sich weigerte, seine Niederlage zu akzeptieren. „Es gibt einen eindeutigen Verlierer, und das ist nun wirklich Frau Merkel“ tönte er in Richtung der CDU-Chefin – und verhalf ihr damit vielleicht sogar ins Kanzleramt. Der ehemalige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender, der die Runde damals moderierte, erinnert sich: „In der CDU-Zentrale in Berlin sollen sich mehrere Politiker, darunter Wulff, Koch und Müller, wegen des enttäuschenden Wahlergebnisses zusammengesetzt haben, um sie abzuräumen. Nach Schröders Attacke war das natürlich nicht mehr möglich. Deshalb hat Schröder Merkel wohl ins Kanzleramt verholfen.“
Nicht „die Richtige“
Irgendwie war das ja schon immer Merkels Spezialität: Niemand rechnet mit ihr und doch geht sie am Ende als Siegerin hervor. Ich glaube, dass ich zu Angela Merkel, bevor sie Kanzlerin wurde, überhaupt keine Meinung hatte. Und das ist mir als Feministin heute doch ziemlich – unangenehm? Peinlich? Denn man sollte doch annehmen, dass man zu der ersten deutschen Kanzlerinnenkandidatin eine Meinung hat. Aber nichts da.
Natürlich gibt es dazu verschiedene Erklärungen. Erstens: Ich war jung. Also, wirklich jung. Klar war ich politisch interessiert, aber Politik hatte trotzdem recht wenig mit meinem eigenen, konkreten Leben zu tun. Zweitens: Deutschland ist nicht Amerika. Wahlkämpfe werden hier nicht so personenbezogen geführt, schließlich wählen wir ja den Bundestag und nicht den Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin. Der deutschen Politik geht das Inszenieren großer Augenblicke irgendwie ab – nur zu parteiübergreifenden, volksverbindenden Anlässen wie Mauerfall, Wiedervereinigung etc. kriegt man das mal hin.
Vor allem aber kam Angela Merkels Wahl mir deshalb nicht historisch vor, weil Merkel nicht „die Richtige“ war. Sie war (und ist) CDU-Politikerin und irgendwie hätte ich mir gewünscht, dass die erste Bundeskanzlerin aus dem linken politischen Lager stammt. Ich hatte hoch gesteckte, idealistische Erwartungen an die erste Kanzlerin. Vielen US-Amerikanerinnen geht es gerade mit Clinton wie mir damals mit Merkel: Yeah, die erste Präsidentschaftskandidatin! Aber muss es wirklich diese Frau sein? Ähnlich in Großbritannien: Hurra, die erste Premierministerin nach Margaret Thatcher! Aber warum bitte ausgerechnet Theresa May?
Ab in die Zeitmaschine
Die Wahrheit ist wohl: Bestimmte Momente fühlen sich nur dann historisch an, wenn sie für einen persönlich etwas bedeuten. Trotzdem: Wenn ich momentan nach Amerika blicke wünsche ich mir manchmal, in eine Zeitmaschine steigen zu können, um ins Jahr 2005 zurückzureisen. Einfach, um nochmal zu erleben, wie das damals war. Angela Merkel mag keine Hillary Clinton sein – aber ein paar mehr Erinnerungen an dieses, wenn vielleicht auch nicht für mich, historische Ereignis hätte ich doch gerne.