Buch-Tipp // „Vom Ende der Einsamkeit“ Von Benedict Wells

24.08.2016 Buch, box1

benedeict wells vom ende der einsamkeit

Es passiert mir ja selten, dass ich Autor*innen nachstelle, also eigentlich natürlich nie, bloß für Harald Martenstein hatte ich zuweilen mal die Bilder-Suchmaschine angeschmissen, weil ich dringend wissen wollte, wer mir da in der Zeit Magazin Kolumne eigentlich seit Jahren aus der Seele schreibt und schimpft und schwitzt. Im Fall Benedict Wells hingegen tippten meine Finger nach den ersten gefressenen sechzig Seiten des neuen Romans quasi wie von selbst die Buchstaben seines Namens in mein Gesichtsbuch ein; ich brauchte ein Profil und ein paar Augen zu dieser ebenso klassischen wie genialen Erzählweise, die immer sagt, was sie meint, ohne große Kreise um das Eigentliche zu drehen. „Vom Ende der Einsamkeit“ wird vom Feuilleton nicht zu Unrecht so hoch gehandelt wie ein seltener Edelstein, wobei Benedict selbst eigentlich der größte deutsche Literaten-Rohdiamant von allen ist, bescheiden, klug und viel zu weise für sein Alter, nicht protzig oder bloßer Pop, sondern schlichtweg mehr als gut. Sieben Jahre lang schrieb der 30-jährige Münchener an seinem vierten Werk, das in diesem Frühjahr auf „Becks letzter Sommer“ folgte. Es ist ein Familienroman geworden, der vor allem von einer großen Liebesgeschichte lebt.

Der Klappentext sagt: „Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist.“ Wenn ich gewusst hätte, was wirklich in diesen 355 Seiten steckt, ich hätte den Roman schon vor Monaten gekauft, aber so musste ich ein zweites und ein drittes Mal hinschauen, mich vom Titel allein bezirzen lassen, den Buchrücken vergessen und in einem kurzen Moment der Ruhe zwischen nach Geschenken suchenden Städtern den ersten Satz der ersten Seite lesen, um schließlich einzutauchen in Wells Welt, binnen Sekunden:

„Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich“.

So geht das dann ein bisschen weiter, man wird beinahe erschlagen von fehlender Sentimentalität, bis man plötzlich bemerkt, dass ausgerechnet das Direkte, Nüchterne, Unverschnörkelte für ein heftiges und andauerndes Gefühlsdonnerwetter sorgt, vielleicht auch, weil keine Lese-Pause zum Durchatmen oder Langweilen bleibt, man muss da durch, immer weiter und immer näher ran an die  Gefühle und Geschichten der Protagonisten, an Jules, der all das erzählt, die Schwester Liz und den Bruder Marty. Benedict schickt uns durch deren Kindheit, Pubertät und Jugend, durch Internate, Zweifel, Drogen und Sex, durch Glücksmomente, Gedanken, Einsamkeit, Erinnerungen, Streit und Wahnsinn. Dann kommt das Erwachsensein, mit allem Drum und Dran. Und die ganz große Liebe:

„Ja, aber das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit.“

Alva, das Mädchen mit den schiefen Schneidezähnen von früher war lange fort. Jetzt ist sie die Ehefrau eines russischen Schriftstellers, was Jules Herz allerdings nicht daran hindert zu erkennen, dass sie schon immer die Eine für ihn war.

„Im Radio liefen Chansons, und führ einen Moment war es wie früher, nur dass zwei Menschen fehlten. Es war wie früher, nur dass nichts mehr wie früher war.“ – Mit dabei ist immer die Musik, Nick Drake, Paolo Conte oder John Coltrane etwa, vornehmlich Melancholiker eben, Jules mag das Schwere. Auch in der Literatur. Ernest Hemingway und Vladimir Nabokov sind seine Helden und vielleicht auch die von Benedict Wells, der kompromisslos und fernab von jedweder Mittelmäßigkeit durch seine eigene Literatur jagt, ganz so, als gäbe es nichts als das geschriebene Wort. Wer genau hinschaut, entdeckt in „Vom Ende der Einsamkeit“ aber viel mehr das das, mehr als Geschichten, nämlich sehr viel Kluges, das sorgfältig unterstrichen gehört:

„Wäre es wirklich besser, wenn es diese Welt überhaupt nicht gäbe? Stattdessen leben wir, wir schaffen Kunst, lieben, beobachten, leiden, freuen und lachen. Wir existieren alle auf millionenfach unterschiedliche Weisen, damit es kein Nichts gibt, und der Preis dafür ist nun mal der Tod.“

Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes, März 2016. 

15 Kommentare

  1. Søren

    Benedict Wells finde ich auch super, alle Romane übrigens, die er bislang geschrieben hat.

    Aber gestatte mir die Frage: den reaktionären, sexistischen, homo- und xenophoben Martenstein findest du doch hoffenlich nicht mehr so toll, oder?

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    1. Mara

      Ich durfte vor fast 10 Jahren in den Genuss einer Lesung von Benedict Wells in meiner damaligen Schule kommen. Er las einige Zeilen seines Erstlingsromans „Becks letzter Sommer“. Ein unglaublich sympathischer, (fescher), junger Schriftsteller, der ganz offen über seinen Zugang zum Schreiben gesprochen hat. Wells, als aufrichtiger Autodidak hat mir nachhaltig den Rücken und Stift als junge, wort- und schrift-affine Frau gestärkt.

      @Søren: Leider ist es oft der Fall, dass Leser und Kritiker der martenstein’schen Kolumnen nicht verstehen, dass es sich dabei um eine ehrliche Beschreibung der gegenwärtigen Gesellschaft handelt. Diese ist sexistisch, homo- und xenophob, daran gibt es keinen Zweifel. Es bedarf einer Differenzierung zwischen der Darstellung und der Identifizierung dessen!
      In Peter Handkes treffender Diagnose der „Beschreibungsimpotenz“ sind leider etliche Schriftsteller/Journalisten und Kritiker gefangen.

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      1. Rebecca

        Oh Hilfe, Mara, da möchtest du dich aber sehr gerne als die ganz große Intellektuelle etablieren, die mal kurz – schön durchschaubar mit #humblebrag – das eigene Schreiben in eine Lesung von Benedict Wells einpflegt und dann noch mal eben eine dann doch sehr altbackene, aber für dich praktische, weil heutzutage fast unbekannte, Gruppe-47-Kritik auf Martenstein runterbricht?

        Ganz im Ernst? PFFFFFFFF. Mal schön die Kirche im Dorf lassen, bitte. Wem soll so ein Kommentar was bringen, außer, dass du dich schlau fühlst und das manch anderer mit vielen Fragezeichen über den Kopf auf den Bildschirmen starrt? Damit erstickst du eine Diskussion nur aus einem egoistischen Impuls heraus, die absolut wichtig ist. Sorry, dass ich hier so abwertend werde, aber ich kann diese Selbstdarstellungsmist einfach nicht mehr hören. Vor allem, wenn es mal um etwas tatsächlich Wichtiges und nicht nur die neue Kollektion von Weekday geht.

        Denn Martenstein (nach tatsächlich extrem fragwürdigen Kolumnentexten, die von Woche zu Woche immer reaktionärer, xenophober und frauenverachtender werden) mit dem Begriff der Beschreibungsimpotenz aufzuwerten, ist nicht nur langweilig hochtrabend, sondern auch gefährlich. Martenstein ist genau das Paradebeispiel für ein Bildungsbürgertum, dass sich für ganz modern und fortschrittlich hält und doch immer weiter ins rechte Gedankengut rutscht. Das muss man hinterfragen und kritisieren und ist eben nicht nur Beschreibungsimpotenz (was dann als Begriff von dir eh nur als Totschlagargument eingesetzt wird), sondern von ihm bewusste Provokation und Zuspitzung, die politisch absolut fragwürdig ist.

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        1. Mari

          Ohne Martenstein verteidigen zu wollen: So richtig um das zulassen von Diskussion ging es Søren aber ja nun leider offensichtlich auch nicht, sondern eher um Kontrolle, ob Nike denn nun die ‚richtige‘ Meinung hat. Sonst wäre die Frage anders formuliert, nämlich wirklich als Frage.

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        2. Pi

          liebe rebecca, an welcher stelle machst du es jetzt genau besser als das, was du mara (und allen anderen) vorwirfst? ist immer ein seeeehr schmaler grad zwischen „hinterfragen, kritisieren und wichtige diskussionen anstoßen“ und sich intellektuell und moralisch als überlegen profilieren wollen, das sollten wir uns alle immer wieder vor augen führen, besonders, wenn wir eigentlich etwas positives bewirken wollen (note to self, too)

          wenn du die gedanken anderer so vorschnell als „selbstdarstellungsmist“ abtust und vermeintlich weißt, was „tatsächlich wichtig“ ist, unterschlägst du, dass jeder eine andere „brille“ aufhat, sich mit anderen themen beschäftigt und dort mehr informationen sammeln konnte – wertschätzende diskussionen sind DER schlüssel zu mehr toleranz und konsensfindung. man kann dem system und institutionen gegenüber sehr kritisch und zynisch sein (das sollten wir viel öfter), aber wenn man das gegenüber menschen ist, bewirkt man nur reaktanzen und eine verhärtung der fronten, damit ist doch niemandem geholfen. vor allem nicht dem thema, für das man sich einsetzt.

          die diskussion einer weekday kampagne ist z.b. alles andere als unwichtig, wenn man aus konsumpsychologischer sicht sieht, wie sehr das perfide spiel des marketings mit menschlichen grundbedürfnissen und der daraus resultierende hyperkonsum und die fokussierung der gesellschaft auf schönen schein menschen unglücklich und depressiv macht und die umwelt, unser aller lebensgrundlage, zerstört. konsumerismus ist die ersatzreligion unserer zeit und hat eine enorme gesellschaftliche wirkkraft, er hängt auch stark mit themen wie ethik, feminismus und menschenrechten zusammen.

          maras beitrag kann man ebenso als eine einladung zu einer wichtigen diskussion verstehen: spricht martenstein wichtige negative emotionen und gesellschaftsströmungen an, damit wir drüber nachdenken (siehe z.b. die colorblindness-diskussion – > es ist kontraproduktiv und verhindert hegemoniale diskurse, wenn colorblindness im sinne des bildungsbürgerlichen gutmenschentums negiert wird), ODER: führen seine texte eher zu einer rechtfertigung dieses gedankengutes und weitergesponnen zur graduellen volksverhetzung? ganz wichtiges thema, beides valide ansichten.

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  2. Jen

    Klingt nicht uninteressant, was mich aber total abtörnt sind die Namen der Protagonisten. Das klingt so ausgedacht nach „besonderen“ Leuten. Wieso nicht einfach mal Julia und Paul oder Tobias und Sabine, oder meinetwegen mal Emir und Pavel geht, werde ich nicht verstehen. Spielt der Roman in England?

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    1. Alice

      Wenn ich das noch richtig im Kopf habe, haben die Eltern des Protagonisten europäische Wurzeln, der Vater ist zb gebürtiger Franzose.
      Während des Lesens spielen die Namen auch überhaupt keine Rolle – ich hätte mich jetzt an keinen mehr erinnert. An das Buch und die Gefühle beim Lesen jedoch immer noch sehr!

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  3. Liz

    Paul und Sabine klingt nach Kinderbuch. Am besten noch mit Otto und Julian. Schon mal drüber nachgedacht, dass man englische Namen wählt, weil die Namen in ca dreißig Ländern funktionieren müssen? Also Jen, das ist nicht böse gemeint, aber wenn eh die gleiche bist wie sonst auch: deine Kommentare lassen immer so viel Frust spüren, das finde ich so schade.

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    1. Jen

      Was? Das tut mir leid. Ich hoffe, es ist eine andere, die du meinst 🙂 Ich empfinde mich nicht als frustriert, aber kritisch denken, das tue ich. Ich wollte mit meiner Namenskritik auch nicht Herr Wells ärgern. Aber mir ist aufgefallen, dass in vielen Büchern junger deutscher Autoren die Namen recht ungewöhnlich sind (ja, ich sollte jetzt ein weiteres Beispiel bringen, aber das fällt mir natürlich nicht ein, entschuldigung).
      Ich meine das hier jedenfalls nicht „frustriert“ (worüber?) und Dank Alice wurde ich ja aufgeklärt, wie egal die Namen eh sind. Schönen Tag allerseits!

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  4. Ann

    Das hört sich toll an, muss ich lesen! Und Nike: der wunderbare Ring an Deinem Mittelfinger… Woher ist der? Ich habe mich glaube ich verliebt

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  5. Neele

    Dieses Buch wird morgen in der Stadt definitiv gekauft. Ich wollte es eh schon lange haben, aber spätestens nach dieser tollen Rezension führt kein Weg mehr daran vorbei. Es ist mein erstes Buch von Benedict Wells und ich bin schon sehr gespannt. Ich habe kürzlich erst von seiner berühmten Familie erfahren, total spannend, was das für eine Schriftsteller „Dynastie“ ist. Danke für den tollen Beitrag und sonnige Grüße aus Freiburg, Neele von http://www.justafewthings.de

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  6. Daniela

    Ja, Benedict Wells ist toll!

    Und als kleiner Tipp: Ähnlich gut sind die drei autobiografischen Romane von Joachim Meyerhoff, „Amerika – Alles Toten fliegen hoch“, „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ und besonders „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“…

    Schönen Abend!

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  7. Sonja

    Dieses Buch… Ich bin begeistert und leider schon bei Seite 200 angekommen. Mein erstes Werk von Wells und sicherlich nicht das letzte. Danke für den Buchtipp!

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