Es passiert mir ja selten, dass ich Autor*innen nachstelle, also eigentlich natürlich nie, bloß für Harald Martenstein hatte ich zuweilen mal die Bilder-Suchmaschine angeschmissen, weil ich dringend wissen wollte, wer mir da in der Zeit Magazin Kolumne eigentlich seit Jahren aus der Seele schreibt und schimpft und schwitzt. Im Fall Benedict Wells hingegen tippten meine Finger nach den ersten gefressenen sechzig Seiten des neuen Romans quasi wie von selbst die Buchstaben seines Namens in mein Gesichtsbuch ein; ich brauchte ein Profil und ein paar Augen zu dieser ebenso klassischen wie genialen Erzählweise, die immer sagt, was sie meint, ohne große Kreise um das Eigentliche zu drehen. „Vom Ende der Einsamkeit“ wird vom Feuilleton nicht zu Unrecht so hoch gehandelt wie ein seltener Edelstein, wobei Benedict selbst eigentlich der größte deutsche Literaten-Rohdiamant von allen ist, bescheiden, klug und viel zu weise für sein Alter, nicht protzig oder bloßer Pop, sondern schlichtweg mehr als gut. Sieben Jahre lang schrieb der 30-jährige Münchener an seinem vierten Werk, das in diesem Frühjahr auf „Becks letzter Sommer“ folgte. Es ist ein Familienroman geworden, der vor allem von einer großen Liebesgeschichte lebt.
Der Klappentext sagt: „Jules und seine beiden Geschwister wachsen behütet auf, bis ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben kommen. Als Erwachsene glauben sie, diesen Schicksalsschlag überwunden zu haben. Doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. Ein berührender Roman über das Überwinden von Verlust und Einsamkeit und über die Frage, was in einem Menschen unveränderlich ist.“ Wenn ich gewusst hätte, was wirklich in diesen 355 Seiten steckt, ich hätte den Roman schon vor Monaten gekauft, aber so musste ich ein zweites und ein drittes Mal hinschauen, mich vom Titel allein bezirzen lassen, den Buchrücken vergessen und in einem kurzen Moment der Ruhe zwischen nach Geschenken suchenden Städtern den ersten Satz der ersten Seite lesen, um schließlich einzutauchen in Wells Welt, binnen Sekunden:
„Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich“.
So geht das dann ein bisschen weiter, man wird beinahe erschlagen von fehlender Sentimentalität, bis man plötzlich bemerkt, dass ausgerechnet das Direkte, Nüchterne, Unverschnörkelte für ein heftiges und andauerndes Gefühlsdonnerwetter sorgt, vielleicht auch, weil keine Lese-Pause zum Durchatmen oder Langweilen bleibt, man muss da durch, immer weiter und immer näher ran an die Gefühle und Geschichten der Protagonisten, an Jules, der all das erzählt, die Schwester Liz und den Bruder Marty. Benedict schickt uns durch deren Kindheit, Pubertät und Jugend, durch Internate, Zweifel, Drogen und Sex, durch Glücksmomente, Gedanken, Einsamkeit, Erinnerungen, Streit und Wahnsinn. Dann kommt das Erwachsensein, mit allem Drum und Dran. Und die ganz große Liebe:
„Ja, aber das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit.“
Alva, das Mädchen mit den schiefen Schneidezähnen von früher war lange fort. Jetzt ist sie die Ehefrau eines russischen Schriftstellers, was Jules Herz allerdings nicht daran hindert zu erkennen, dass sie schon immer die Eine für ihn war.
„Im Radio liefen Chansons, und führ einen Moment war es wie früher, nur dass zwei Menschen fehlten. Es war wie früher, nur dass nichts mehr wie früher war.“ – Mit dabei ist immer die Musik, Nick Drake, Paolo Conte oder John Coltrane etwa, vornehmlich Melancholiker eben, Jules mag das Schwere. Auch in der Literatur. Ernest Hemingway und Vladimir Nabokov sind seine Helden und vielleicht auch die von Benedict Wells, der kompromisslos und fernab von jedweder Mittelmäßigkeit durch seine eigene Literatur jagt, ganz so, als gäbe es nichts als das geschriebene Wort. Wer genau hinschaut, entdeckt in „Vom Ende der Einsamkeit“ aber viel mehr das das, mehr als Geschichten, nämlich sehr viel Kluges, das sorgfältig unterstrichen gehört:
„Wäre es wirklich besser, wenn es diese Welt überhaupt nicht gäbe? Stattdessen leben wir, wir schaffen Kunst, lieben, beobachten, leiden, freuen und lachen. Wir existieren alle auf millionenfach unterschiedliche Weisen, damit es kein Nichts gibt, und der Preis dafür ist nun mal der Tod.“
Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes, März 2016.