Neulich saß ich im Kino und musste mich vor Lachen beinahe übergeben, ein Popcornkorn hatte sich beim heftigen Jauchzen zwischen Gaumen und Nase verirrt und klebte nun dort fest, Tränen schossen mir in die Augen, nicht aber vor Verzweiflung, sondern wegen dieser maximalen Wonne, die mir an Situationskomik beschert wurde. Ines Conradi gab auf der Kino-Leinwand als „Whitney Schnuck“ gerade lautstark „The Greatest Love Of All“ zum Besten, irgendwo in einem fremden Wohnzimmer, voller Inbrunst. Die Dame auf dem Platz neben mir versuchte währenddessen ihren Lachanfall durch heißblütiges Trommeln auf den Oberschenkeln ihrer Begleitung in den Griff zu bekommen, ein glückseliges Grunzen erfüllte den Saal.
Die deutsche Regisseurin und Drehbuchautorin Maren Ade hatte die Welt mit ihrem Spielfilm „Toni Erdmann“ zweifelsohne exakt in diesem Moment zu einer besseren gemacht. Eigentlich heißt der pensionierte Protagonist und Musiklehrer übrigens Winfried Conradi und hegt eine Vorliebe für schräge Scherze. Als sein Hund stirbt, macht er sich auf den Weg nach Bukarest, um die spießige Tochter vor der furztrockenen Einöde der Berater-Branche zu retten. Uns rettet er im gleichen Atemzug vor zu viel Heuchelei, zu wenig Freiheit und vergessenem Humor. Jeder von uns Zuschauenden wusste jedenfalls schnell, dass er gut daran täte, endlich mehr Toni in sein Leben einkehren zu lassen. Ein bisschen mehr Fuck Off eben. Und Mut zur Kauzigkeit. In den folgenden Tagen versuchte ich also, meinen inneren Erdmann häufiger nach außen zu kehren, statt ihn weiter zu ersticken. Wenn auch nicht immer erfolgreich.
Mehr schlecht als recht meisterte ich die erste Szene meines Samstages, an dem ich auf eine Horde Freunde von Freunden traf, mit denen ich ungefähr so viel gemeinsam habe wie mit Lotti Moss. Wirklich überhaupt gar nichts. Ich tat nicht nur überrascht, ich war es auch, denn eigentlich wollte ich nur meine Ruhe und ganz bestimmt nicht reden. Hier vergaß ich das Neue Tonitum tragischerweise für einen kurzen Augenblick und versuchte, mich mit bescheuerten Floskeln über Wasser zu halten, um zumindest nicht als Unsympath aus der Begegnung zu verschwinden. Während ich da so vor mich hin komplimentierte, hörte ich meine Begleitung schon unterdrückt glucksen, der Mann kann seine Gedanken nicht gut verbergen. Zehn Meter später wurde ich bloßgestellt: „Du bist so krass scheiße in Smalltalk und dein Gesicht hast du auch nicht unter Kontrolle, da kannst du auch gleich sagen „sorry, ich muss weiter, hab Brechdurchfall.““ Stimmt leider. Ich fragte mich, was Toni getan hätte. Keine Ahnung. Aber die gereifte Ines hätte sich womöglich nackt ausgezogen und im Schneidersitz in die Mitte gesetzt, nur ein paar Sekunden lang, gerade so kurz eben, bis die Situation samt dazugehöriger Menschen sich von ganz allein in Luft aufgelöst hätte. Das kann man im echten Leben natürlich nur bedingt so praktizieren. Aber wäre ich ehrlich zu mir selbst und auch dem Rest gewesen, ich hätte einfach „Hi“ gesagt, um alsbald höflich aber bestimmt von dannen zu flattern. Es geht ja vor allem darum, endlich wieder zu tun, wonach einem gerade der Sinn steht und sein zu lassen, was man in Wahrheit verteufelt. Zu den Scherzen kommen wir später.
Noch beim Verlassen des Kinos erinnerte ich mich daran, wie meine Mutter mir im Grunde schon früh beibrachte, auf die Meinung anderer zu pfeifen, zumindest auf jene sämtlicher Mitbürger, deren größte Verrücktheit die absurde Heckenkunst im Vorgarten zu sein schien. Damals fuhr sie regelmäßig Bademantel-tragend unser Auto hinter dem gerade verpassten Schulbus hinterher, überholte schnittig, kurbelte das Fenster runter und brüllte dem Fahrer fragend rüber, ob er vielleicht kurz anhalten könne, sie müsse nämlich auch noch zur Arbeit und ich bräuchte mein Abitur. Mir war das so peinlich, dass ich es durchaus vorgezogen hätte, jede einzelne Klausur nachzuschreiben. Ganz offensichtlich war ich blind dafür, dass meine Mutter mir nicht nur den Allerwertesten rettete, sondern noch dazu etwas Wichtiges lehrte: Jedes Schamgefühl sollte auf Relevanz überprüft werden. Wer es nämlich schafft, sinnlose oder reinsozialisierte Benimm-Regeln hin und wieder beiseite zu schieben, dem steht ein großes Stück mehr von der Welt offen.
Ähnlich ergeht es zuweilen jenen, die sich kindliche Späße beibehalten, zumindest in Maßen,immer dann, wenn es wirklich angebracht erscheint. Was wäre das eine wohlige Wonne gewesen, diesem Arschgesicht von sexistischem Chef-Unternehmer während der GQ Awards ein Furzkissen unten den Hinter zu schieben. Ein kleiner Streich für die Menschheit, das ultimative Seelenheil für mich und alle anderen Frauen des Planeten. Toni Erdmann hätte sich an diesem Abend im Gegensatz zu mir nicht lumpen lassen. Weil er eins verstanden hat: Wir sind niemandem etwas schuldig, außer uns selbst. Das wilde Leben zum Beispiel.