„I hope to God it’s a revolution. Cause I don’t want to cover up anymore. Not my face, not my mind, not my soul, not my thoughts, not my dreams, not my struggles, not my emotional growth. Nothing.“ Mit ihrem Essay für das Newsletter-Projekt Lenny Letter hatte Alicia Keys sich Ende Mai in die Herzen sämtlicher Frauen geschrieben. Die Musikerin entledigte sich damals pünktlich zur neuen Singleauskopplung „In Common“ ganz öffentlich jeglicher Schminke, selbst auf dem dazugehörigen Plattencover war und ist kein Gramm Puder zu erkennen: „I swear it is the strongest, most empowered, most free, and most honestly beautiful that I have ever felt“, kommentierte Keys später ihre Entscheidung, aus der als logische Konsequenz recht bald die #NoMakeUp Bewegung entsprang.
Frauen aus aller Welt posten sich seither passend zum Hashtag ganz so, wie die Natur sie schuf: ungeschminkt. „Wunderbar“, dachte ich damals schnell, bis ich kurz darauf ins Hadern geriet: Läuft da nicht mächtig was schief, wenn das Natürliche plötzlich als Ausnahme gilt und sogar ganz öffentlich zelebriert werden muss, um überhaupt wieder als salonfähig zu gelten?
Ich hatte lange Zeit nicht bemerkt, dass es heutzutage beinahe flächendeckend als schräg gilt, das eigene Antlitz vor dem Verlassen der eigenen vier Wände nicht in Farbe zu tunken. Außer, draußen herrscht Sommer und an den Füßen baumeln Flip Flops. Dann ist es ok, kaum sichtbare Wimpern durch die Straßen zu tragen, die Sonnenbräune gleichts ja aus. Ist dem allerdings nicht so, hagelt es mitunter besorgte Kommentare, wann immer das schnelle Frühstücks-Croissant dem Beauty Case vorgezogen wird, etwa aus Zeitmangel. Das weiß ich, seit ich selbst keinen Mascara mehr benutze. Ich hatte eine alte Anti-Falten-Augencreme aus der Kramkiste herausgefischt, benutzt und ebendieses Experiment schnell bereut. Mein linker Augapfel schwoll binnen weniger Minuten zu einem Taubenei-großen Feuerball an, das Lid juckte und kratzte und all die Farbe kroch in schwarzen Tränen die Wangen entlang. Ich verordnete mir daraufhin spontane Schmink-Abstinenz, die bis heute anhält. Mehr aus Faulheit, als aus Prinzip. Die Reaktionen auf ungetuschte Wimpern und fehlende Concealer-Puppenhaut jedenfalls sind interessant anzusehen und durchaus verrückt.
Einige Beispiele aus meinem persönlichen Sammelsurium: Scheiße, was ist los? / Geht es dir gerade nicht gut? / Du siehst echt blass aus. / Ist das jetzt sowas wie eine Emanzen-Bewegung? / Hat er Schluss gemacht? / Ist das Kind grad anstrengend? / Haha, Kater? Und: Boah, das ist aber mutig. / Naja, solange man sich auch so schön findet. / Na gut, wenn mans sich leisten kann. / Da muss man sich aber schon auch extrem gut finden. / Mir würde ja das Selbstbewusstsein dazu fehlen.
Obwohl Wimperntusche an weniger verschlafenden Tagen zu meiner morgendlichen Routine dazu zählte wie das Zähneputzen, stellte „Beauty“ für mich dennoch stets nur ein lästiges, aber nützliches Nebenthema dar – womöglich war ich also aus reiner Desinteresse für sämtliche Kommentare ob meines gelegentlichen ungeschminkten Auftretens taub gewesen. Jetzt aber fällt mir die Wichtigkeit all dessen doppelt auf, meist während abendlicher Events, die meinem Beruf geschuldet sind. Aber vor allem merke ich, dass das Unbehagen, welches ins solchen Fällen entstehen kann, nicht aus meinem Innersten entspringt, sondern von Fremden getriggert wird. Etwa, wenn mich das Gefühl beschleicht, man könne mich für ungepflegt, überfordert oder übergeschnappt halten, bloß weil unter meinen Augen kleine, natürlich Schatten zu erkennen sind. Weil die Spitzen meiner Wimpern transparent zu sein scheinen und meine Haut unterschiedliche Nuancen aufweist, statt im Einheits-Beige samt güldener Highlights zu erstrahlen.
Nach einer weiteren Prise Selbstreflexion musste ich mir zudem eine gar nicht leicht zu beantwortende Frage stellen: Warum genau schminken wir uns nochmal? Wer sagt denn, dass Wimpern bloß in Überlänge und tiefschwarz schön seien, wozu rosige Wangen und Balken über dem Lied? Wegen der Selbstoptimierung, schon klar. Aber rennen wir nicht in die genau falsche Richtung, wenn wir nicht unser Selbst in den Vordergrund stellen, sondern konstant an selbigem herumpfuschen? So leicht ist es natürlich nicht. Und ganz grundsätzlich stehe ich jeder Art von Extremen kritisch gegenüber. Ich liebe es beispielsweise, mir die Lippen mit feuerroter Farbe zu bestreichen, um den schwarzen Rollkragenpullover ganze 55 Jahre in die Vergangenheit zu katapultieren, ganz so, als sei ich demnächst mit Jean Paul und seinen Kumpels zum Tee verabredet. Ich mag es, meine Augenbrauen ab und zu mit Pomade auf die doppelte Größe zu mogeln und bin heilfroh über die Erfindung des Abdeckstiftes, immer dann, wenn die Periodenpickel kommen. Aber ich bin es satt, all das nicht aus eigenem Willen zelebrieren zu können und regelmäßig in Panik zu verfallen, weil es eigentlich schon viel zu spät ist, sich herausputzen. Ich möchte mich, wenn überhaupt, mich für mich ganz allein herausputzen. Vielleicht noch für meine Freundinnen. Für ein Gefühl, das mich überkommt, eine Rolle, in die ich schlüpfen will oder weil Schminke ebenso wie eine adrette Frisur durchaus als Accessoire funktionieren kann. Bloß sollte sie nicht als überlebenswichtig gelten, das wäre nett. Dann würden wir vielleicht auch endlich erkennen, wie viel Schönheit auch ohne Klimbim in uns steckt.
Alicia Keys ist da ein gutes Beispiel. Ist sie jemals schöner, echter, einnehmender gewesen? Ich meine nein. Und fange langsam an, meine neugewonnene Freiheit zu genießen. Fahrradfahren im Regen etwa, war selten eine solche Wonne.