Beim Thema Make-up machen die Regeln die anderen. Immer noch.
Einmal habe ich den Fehler gemacht. Zwei-, dreimal. Und jedes Mal die gleiche Reaktion: „Schlecht siehst du aus! Bist du krank?” Dazu ein angedeutetes Lachen – nimm’s doch nicht so ernst. Ja, ich habe den Fehler ein paar Mal gemacht. Und dann beschlossen: Meine Großeltern besuche ich nicht mehr ungeschminkt. Weil ich keine Lust mehr habe auf blöde Sprüche oder die vorauseilenden Entschuldigungen meiner Mutter: „Nicht, dass ihr euch wundert – Julia hatte keine Zeit, sich zu schminken!“ Das alles klingt genauso bescheuert, wie es sich liest. Als ich mich bei meiner Schwester über diesen familiären Zwang zum Make-up beschwerte, sagte die nur achselzuckend: „Ach, die freuen sich halt, wenn man sich ein bisschen hübsch macht.“
Selbstbewusst ungeschminkt? Eine Provokation!
Es ist nicht so, dass ich mich nicht gerne schminke. Aber manchmal habe ich auf den ganzen Kram eben keine Lust. Und sollte nicht gerade die Familie einen so akzeptieren, wie man ist? Als ich Alicia Keys‘ Essay über ihr neues, ungeschminktes Dasein las (Nike Jane, die inzwischen auf weitestgehend auf Make Up verzichtet, berichtete hier bereits davon), war ich voll der Bewunderung – und stellte mir sogleich ein Zusammentreffen zwischen Alicia und meiner Oma vor: „So eine hübsche Frau, aber ziemlich blass um die Nase. Ich mein das ja nicht böse, aber ein bisschen Mühe geben könnte sie sich ja schon.“ Nicht, dass Keys seit ihrer öffentlich verkündeten Entscheidung, künftig Make-up-frei zu leben, nicht schon jede Menge ähnlicher Reaktionen bekommen hätte. Menschen auf Twitter fanden sie plötzlich „hässlich“ und „unweiblich“. Eine selbstbewusst ungeschminkte Frau, so scheint es, provoziert. Keys selbst scheint das alles kalt zu lassen. In ihrem Song When a Girl Can’t be Herself singt sie: „Who says I must conceal what I’m made of / Maybe all this Maybelline is covering my self-esteem“. Eine kurze Welle der Empörung brach los, als herauskam, dass der No-Make-up-Look eben nicht bedeutet, sich kurz Wasser ins Gesicht zu spritzen und so zur nächsten Preisverleihung zu schweben. „Turns out going make-up free isn’t as easy (or cheap) as it seems…“ höhnte InStyle und enthüllte die teuren Utensilien, die Keys‘ Haut strahlen lassen.
Trotzdem: Alicia Keys’ Entscheidung wird allgemein als mutiges Statement gegen den Schönheitswahn und Zwang zur weiblichen Perfektion gefeiert. Eine Entscheidung, so betont Keys immer wieder, die sie für sich persönlich getroffen hat. Soll heißen: Wenn andere Frauen Make-up tragen wollen, sollen sie das doch bitte tun. You do you! Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie beispielsweise – bekannt u.a. für ihren TED Talk We should all be feminists – liebt Schminke und ist gerade zum neuen Gesicht von Boots No7 Make-up gekürt worden. Adichie hat in der Vergangenheit immer wieder darüber gesprochen, dass Feministin sein und das Tragen von Schminke und High Heels sich nicht gegenseitig ausschließen. Das Ganze sollte eigentlich ein no brainer sein, muss aber offenbar stets aufs Neue erklärt werden. „There is something exquisitely enjoyable about seeing yourself with a self-made new look. And for me that look is deeply personal. It isn’t about what is in fashion or what the rules are supposed to be. It’s about what I like”, sagt Adichie.
Man selbst zu sein erfordert Mut
Also was nun: Ohne Make-up der Beauty-Industrie den Kampf ansagen und sich sein eigenes, ungeschminktes Gesicht wieder aneignen? Oder Schminke nutzen, um zu der zu werden, die man sein möchte, um die eigene Persönlichkeit zu betonen? In Wahrheit geht es hier natürlich nicht um ein „entweder… oder“. Wie Chimamanda Ngozi Adichie richtig feststellt: „That’s my hope and my prayer for women, that women are allowed to be whatever version makes them feel truly like themselves. For some women it’s exactly what she’s [Alicia Keys] done, which is that she took the mask off. For other women it’s the opposite. I remember actually not wearing makeup and feeling false because I wanted to wear lipstick.”
Alica Keys und Chimamanda Ngozi Adichie zeigen: Schminke ist etwas ganz persönliches. Ich kenne jede Menge Frauen, die ungeschminkt nie das Haus verlassen würden. Ich kenne aber auch einige, die außer einem Abdeckstift keine Schminkutensilien besitzen. Manchmal erinnere ich mich an die Zeit, als eine fiese Schuppenflechte in meinem Gesicht wucherte und eine Schicht Make-up bewirkte, dass ich mich trotzdem nicht wie ein Alien fühlte. Es ist oft nicht einfach, das zu tun, womit wir uns am meisten wohlfühlen. Weil uns viel zu oft eingeredet wird, die Entscheidung läge nicht bei uns und es gäbe Vorgaben, denen wir zu folgen hätten – basta. Frauen Die Regeln machen die anderen, sie entscheiden, wann es „zu viel“ oder „zu wenig“ ist. Man selbst zu sein, erfordert Mut. Egal, ob geschminkt oder ungeschminkt.
Zu viel? Zu wenig?
Vor einiger Zeit war ich im Fernsehen und wurde dafür professionell geschminkt. Fernseh-Make-up wird nicht sparsam eingesetzt und ist generell dunkler als der eigentliche Hautton – sonst sieht man im Studio nämlich aus wie tot. Da saß ich also, geschminkt und zurecht gemacht, plauderte über Feminismus und fühlte mich ziemlich gut dabei. Nach der Sendung telefonierte ich mit meiner Oma. „Ich hab dich ja gar nicht erkannt“, sagte sie, „wegen der ganzen Schminke! Also, das war ja viel zu viel. Da hab ich zum Opa gesagt: Das ist doch nicht unsere Julia!“ Wie gesagt: Die Regeln machen die anderen. Aber muss das wirklich sein?