Verglichen mit anderen Ländern ist die deutsche Politik gähnend langweilig – im Vordergrund stehen Inhalte nicht Inszenierung. Doch angesichts eines Präsidenten Trump oder auch eines Björn Höcke (AfD), sollten wir froh sein, dass es so lange so langweilig war im deutschen Politikbetrieb.
Als ich im Spätsommer 2007 mein Studium in Frankreich begann, dauerte es nicht lange, bis sie auf der Bildfläche auftauchten: das neue It-Paar Nicolas Sarkozy und Carla Bruni. Verliebt schlenderten der damalige französische Präsident und das zur Sängerin mutierte Model durch Disneyland Paris, Weihnachten ging es in den Urlaub nach Luxor. Die Medien vermuteten eine PR-Aktion. Doch bald war klar: Die meinen das ernst. Selbst der deutsche Spiegel druckte Frankreichs neues premier couple auf die Titelseite. „Wie nimmst du als Deutsche das denn wahr?“, fragten französische Freund*innen und ich konnte ihnen nur sagen: Deutsche Politik ist viel zu langweilig für derartig aufregende Liebesverwicklungen. Deutschland ist ein Land, in dem es schon als nahezu verrückt gilt, wenn der Bundespräsident mit seiner Herzensdame nicht verheiratet ist, oder der Justizminister eine Schauspielerin datet.
Deutschland hat keinen Präsidenten, der des Nachts auf seinem Motoroller quer durch Paris fährt, um seine Geliebte zu sehen. Oder eine glamouröse Ex-Justizministerin, die sich bis heute standhaft weigert, den Vater ihres Kindes zu enthüllen (aber geschickt darauf hindeutete, es könnte durchaus einer der Sarkozy-Brüder sein). Nein: Deutschland hat Angela Merkel, die im Urlaub am liebsten Wandern geht und ihre Freizeit mit Kochen und Ausschlafen verbringt. Deutschland hat den Bundespräsidenten a.D. Christian Wulff, der sich nach getaner Arbeit abends mal ein ganz dekadentes Glas Saft gönnte. Deutsche Politiker*innen sind in den meisten Fällen zuverlässige Arbeiter*innen im Weinberg der Demokratie und drängen mit ihrem Privatleben nur in seltenen Fällen in die diversen Klatschmagazine (ab und zu eine Homestory muss eben sein) – das erwarten die Deutschen von ihnen. Glanz und Glamour erscheinen dem deutschen Wahlvolk äußerst suspekt. Statt der prickelnden Versprechung des Neuen, Unbekannten, wählt man hier Angela „Sie kennen mich“ Merkel.
Dieter Bohlen als Bundeskanzler
Oft fand ich die deutsche Politik unerträglich langweilig. Zu wenig Lametta, menschliches Drama, Intrigen. Jetzt, wo in den USA Donald Trump offiziell als amerikanischer Präsident vereidigt wird, denke ich: Gut so. Gut so, dass das deutsche politische System inklusive seines politischen Personals so ist, wie es ist. Trump hat aus dem Wahlkampf eine Satire gemacht, aus der Ernennung seines Regierungsteams eine Ausgabe von The Apprentice, aus der Politik den Spielplatz eines gelangweilten Millionärs. Viele Amerikaner*innen haben ihn aus Protest gewählt – viele aber auch aus Überzeugung, weil sie das, was er macht, gut finden. Nach der Wahl im November sagte mein Vater zu mir: „Das ist so, als wäre Dieter Bohlen Bundeskanzler.“ Mit dem Unterschied, dass Dietäää natürlich nie Bundeskanzler werden würde, denn wir sind in Deutschland. Entertainment und Politik mögen sich hier zwar durchdringen, zur selbstverständlichen Symbiose sind sie aber noch längst nicht geworden: Im Vordergrund stehen Inhalte, nicht Inszenierung.
Und dafür bin ich dankbar. Natürlich, manchmal wünsche ich mir mehr Emotionen, mehr Drama, mehr Spontaneität in der deutschen Politik – ernsthaft, die Idee, Veronica Ferres als Bundeskanzlerin mit dem französischen Präsidenten zu verkuppeln (nur im TV-Film, versteht sich), hielt ich für wohltuend irre. Manchmal wünsche ich mir, deutsche Politik würde sich selbst nicht immer so bierernst nehmen und sich mal ein bisschen locker machen. Rhetorisch mal was wagen, mehr Pathos, mehr große Linien. Einfach weniger vorhersehbar, weniger langweilig sein.
Nicht beruhigend, sondern unverantwortlich
Doch dann sehe ich Menschen wie den Politiker Björn Höcke reden. Da wird vor der Gefahr durch den „Import fremder Völkerschaften“ gewarnt, und gefordert: „Dieses Land braucht einen vollständigen Sieg!“. Das alles vor anheimelnder Brauhaus-Kulisse und untermalt von „Wir sind das Volk“-Rufen. In solchen Momenten denke ich: Sei dankbar für die Langeweile. Sei dankbar, solange es noch so ist. Deutschland mit seinem effizient-unprätentiösen Politikbetrieb hat es lange geschafft, Menschen vom Schlage eines Höcke oder ja, auch eines Trump, klein zu halten. Doch die Zeiten ändern sich: In ganz Europa, in der ganzen Welt, haben aggressive Lautsprecher*innen an Sichtbarkeit und Unterstützung gewonnen. Die Weltlage ist kompliziert, sie macht vielen Angst. Und plötzlich empfinden auch viele Deutsche die meist unaufgeregte Art der deutschen Politik, mit Terrorismus, Flüchtlingen und anderen Herausforderungen umzugehen, als nicht mehr beruhigend, sondern als unverantwortlich.
Selbst in Deutschland gibt es jetzt Platz für Björn Höcke und seine rechten Parolen: Dagegen wirkt die CSU schon fast wie ein niedlicher, wenn auch leicht bissiger Schoßhund. Der deutsche Politikbetrieb ist dabei, sich nachhaltig zu verändern. Man könnte sagen: Das deutsche Volk ist gelangweilt von der Langeweile. Es will aufgerüttelt werden, vermeintlich „wahre“ Dinge hören, die sich die üblichen Mainstream-Politiker*innen aber aufgrund allseits grassierender political correctness nicht zu sagen trauen. Mehr Drama, weniger Langeweile – aber um welchen Preis? Wenn in ein paar Monaten die AfD triumphal in den Bundestag eingezogen ist, wird Deutschland politisch endgültig mit seinen europäischen Nachbarn gleichgezogen haben.
Abschied von der Langweile
Trotzdem: Hoffnungslos bin ich nicht. Denn tatsächlich haben deutsche Politiker*innen die Zeichen der Zeit erkannt – und sind, trotz aller Langeweile, viel weniger langweilig als gedacht. Oder wer hätte erwartet, dass die berechenbare Bundeskanzlerin einfach mal die Grenze für Flüchtlinge öffnet? Wer hätte gedacht, dass so viele junge Politiker*innen
Den AfD-Sprech nicht einfach so stehen lassen, sondern rhetorisch brillant dagegen ankämpfen? Wer hätte gedacht, dass jemand wie der iranisch-stämmige Schriftsteller Navid Kermani sich ernsthafte Chancen ausrechnen durfte, als Bundespräsident nominiert zu werden (wenn er denn gewollt hätte)?
Langweile kann ein wohliges Gefühl sein, sich vertraut und sicher anfühlen. Langweile kann aber auch erstickend sein, Stillstand bedeuten. So oder so: Die deutsche Politik hat sich von der Langweile verabschiedet – sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne. Und das hat sie immerhin ganz ohne heimliche Liebesaffären oder einen Entertainer als Regierungschef geschafft.