Mal wieder ist es passiert. Und mal wieder stelle ich mir Fragen.
Letzte Woche stand ich abends mit zwei männlichen Freunden an einer Berliner U-Bahn-Station. Die Jungs verabschiedeten sich und stiegen in ihre Bahn, ich wartete auf meine. Stöpsel im Ohr, Musik auf den Ohren, nur noch zwei Minuten Warten. Dann schob sich ein Mann in mein Blickfeld. Er stand direkt vor mir und redete auf mich ein. Musik sei Dank verstand ich kein Wort, wollte aber nicht unhöflich sein – vielleicht hatte der Mann ja eine Frage – und nahm die Stöpsel aus den Ohren. Der Mann sprach und ich verstand ihn nicht. „Bitte?“, sagte ich und diesmal war seine Antwort klar verständlich: „Ich will dich ficken.“ Und: „Meiner ist so groß“, untermalt von entsprechenden Handbewegungen.
In diesem Augenblick hatte ich keine Angst, ich fühlte mich nicht eingeschüchtert – in Rufnähe warteten mehrere Leute ebenfalls auf die U-Bahn. Aber ich war unglaublich wütend. Erst auf den Mann, der seltsam weggetreten und teilnahmslos wirkte (Drogen? Alkohol?). Dann auf mich, weil ich einfach nichts sagte, meine Stöpsel zurück ins Ohr stopfte und stur vor mich hinstarrte, bis die Bahn kam. In der Bahn schickte ich eine Nachricht an meine Schwester, schilderte ihr, was geschehen war. Ihre Empörung konnte ich förmlich durchs Handy spüren. Und ich? Ich war nicht empört. Nur irgendwie… leer.
Nichts passiert, eigentlich
Denn ich kenne das ja. Ich bin es gewohnt, wie so viele andere Frauen. Als ich im nordfranzösischen Lille studierte, ein doch recht hartes Pflaster, wurde ich nachts auf dem Nachhauseweg einmal von einer Gruppe junger Männer umringt. Sie redeten auf Französisch auf mich ein und ich hatte keine Ahnung, was sie von mir wollten. Durch die aufkommende Panik vergaß ich sämtliche Sprachkenntnisse, in meinem Kopf war nur noch Platz für einen Gedanken: Wie komme ich hier wieder raus? Irgendwas machte dann in mir „Klick“ und Französisch-Fragmente kehrten zu mir zurück. Ich plauderte also mit diesen Männern, die mich umringten, sicher ein paar Minuten lang, bis ich es wagte, ein „Bonne nuit“ in die Runde zu werfen und weiterzugehen. Meter für Meter, immer in dem Bewusstsein, dass sie mir nachkommen könnten. Und dann? Es kam mir niemand nach.
Vor zwei Jahren wurde ich am hellichten Tag auf dem Berliner Mehringdamm angegriffen. Ich fuhr auf meinem Rad an Mustafa’s Gemüsekebab vorbei, als mir plötzlich ein Mann entgegenkam. Auf dem Fahrradweg. Ich klingelte. Der Mann sah mich direkt an, irgendetwas an ihm stimmte nicht. Er schien dreckig, aggressiv, der Blick verhangen. Dann packte er mein Fahrrad, griff in den Lenker und schrie mich an. Er versuchte, mein Rad mitsamt mir darauf gegen eine nahestehende Laterne zu werfen. Er schrie immer weiter, ich verstand ihn nicht. Ich war so perplex, dass ich nur sagte: „Hey, hey“. Immer wieder. Die 20 Menschen in der Schlange vor Mustafa’s Gemüsekebab guckten. Und guckten. Irgendwann ließ der Typ mein Fahrrad los, ich fuhr weiter, über die nächste Ampel – und brach in Tränen aus. Dabei war ja nichts passiert. Eigentlich.
Nicht normal, eigentlich
Denn eigentlich ist eben doch eine Menge passiert und passiert immer wieder. Und ich bin wütend über mich selbst, dass ich das meistens so hinnehme. Weil ich eben daran gewöhnt bin. Weil es so „normal“ ist. Und manchmal frage ich mich: Was wäre, wenn ich es nicht so hinnehmen würde? Wenn wir es nicht so hinnehmen würden? Wenn sich in unserer Gesellschaft endlich die Erkenntnis durchsetzen würde, dass solche Vorfälle nicht „normal“ sind – weder für mich, noch für so viele andere. Dass man sie nicht einfach „akzeptieren“ muss. Dass sich grundlegend etwas ändern muss, weil es hier nicht um vereinzelte, individuelle Vorfälle geht, sondern um ein strukturelles Problem. Ja, was wäre wenn?