Ein paar Wochen erst ist es her, dass das knallgelbe The Second Sex-Shirt aus der KDG x Jane Wayne-Kollektion in meinem Schrank gelandet ist und schon verbinde ich wunderbare Erlebnisse mit diesem Kleidungsstück. Zum Beispiel dieses: Beim Besuch in meiner geliebten Heimatstadt Herne stand ich mit meiner Mama im Buchladen unseres Vertrauens und suchte nach Geschenken für Freund*innen und Bekannte. Ich empfahl meiner Mama diverse Bücher, holte sie aus dem Regal und präsentierte sie. Als meine Mama ein paar Regale weiterging, sprach mich plötzlich eine Frau von der Seite an: „Bedienen Sie?“. Nach einem kurzen Moment der Verständnislosigkeit dämmerte es mir: Sie hielt mich für eine Mitarbeiterin! Das lag nicht nur an dem Dialog mit meiner Mama („Hier, das ist wirklich super!“), sondern auch an besagtem knallgelben T-Shirt, auf dem nun mal fett ein Buch prangt.
„Niemand ist den Frauen gegenüber arroganter, aggressiver oder verächtlicher als ein in seiner Männlichkeit verunsicherter Mann.“ (Das andere Geschlecht)
Und dieses Buch hätte ich der unbekannten Dame eigentlich sofort empfehlen sollen. Fast 70 Jahre ist Simone de Beauvoirs Klassiker Das andere Geschlecht schon alt – aber immer noch genauso lesenswert wie 1949. Finde ich. Manchmal habe ich das Gefühl, mit dieser Ansicht eher zur Minderheit zu gehören. „Ich glaube nicht, dass ich aus diesem Buch etwas lernen kann“, sagte eine junge Französin mal zu mir. Viel öfter höre ich aber ein entschuldigendes: „Ich sollte das ja mal lesen, aber….“. Aber was? Mittlerweile bin ich der festen Überzeugung, dass zwar viele feministisch interessierte Menschen Das andere Geschlecht irgendwo im Regal stehen haben, sich aber noch nicht dazu aufraffen konnten, das Ding mal zu lesen. Klar, das Zitat aller Zitate aus dem Buch kennt sowieso jede*r: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Darüber hinaus herrscht jedoch oft offenkundige Ahnungslosigkeit, was genau Simone de Beauvoir denn nun eigentlich geschrieben hat.
Jeansjacke / Hose / Bonjour Simone Shirt / The Second Sex Shirt
Bevor ich zum Inhalt komme, eine kurze Entstehungsgeschichte des Anderen Geschlechts: Damals, 1946, will die 38-Jährige Beauvoir eigentlich ihre Memoiren schreiben und dafür zuerst danach fragen, was es für sie bedeutet, eine Frau zu sein. Sie denkt ernsthaft, mit der Beantwortung dieser Frage schnell fertig zu sein, denn bisher hat Beauvoir ihr Frausein nicht als Nachteil erfahren. Ihrem Partner Jean-Paul Sartre erklärt sie, es habe für sie einfach nie eine Rolle gespielt. Sartre gibt zu bedenken: „Trotzdem sind Sie nicht so erzogen worden wie ein Junge: Das muss man genauer untersuchen.“ Das Ergebnis dieser Untersuchung nennt sich Das andere Geschlecht, denn Beauvoir stellt plötzlich fest: „Diese Welt ist eine Männerwelt, meine Jugend wurde mit Mythen gespeist, die von Männern erfunden worden waren, und ich hatte keineswegs so darauf reagiert, als wenn ich ein Junge gewesen wäre.“
„Nicht das Andere definiert das Eine, indem es sich selbst als das Andere definiert: es wird von dem Einen, das sich als das Eine versteht, als das Andere gesetzt.“ (Das andere Geschlecht)
Mit ihrer üblichen Gründlichkeit und Neugier liest Simone de Beauvoir sich durch verschiedenste Texte und sucht nach einer Antwort auf die Frage: Warum sind Frauen den Männern nicht gleichgestellt? Schon in der Einleitung macht Beauvoir klar: „Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen.“ Der Mann sieht sich selbst also als das Absolute, die Frau als das Relative. Er ist das Wesentliche, das Eine, sie das Unwesentliche, das Andere. In ihrer Analyse stützt sich Beauvoir auf zahlreiche Beispiele aus Literatur und Kultur, zitiert Texte aus den verschiedensten Disziplinen und kommt zu dem (vielzitierten) Schluss: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Biologie ist also kein Schicksal. Es gibt keine durch die Anatomie bestimmte „weibliche Essenz“, die Frauen bestimmte Verhaltensweisen, ein bestimmtes Leben, eine bestimmte Situation auferlegt. Beauvoir trennt das biologische Geschlecht von der sozialen Rolle und begründet damit das heutige Konzept von sex und gender. Die Kategorie Frau ist für sie nicht mehr als ein gesellschaftliches Konstrukt und deshalb gibt es auch keine spezifisch weiblichen Eigenschaften, die die Benachteiligung von Frauen rechtfertigen.
Jeansjacke / No More Patriarchy Shirt
Als Das andere Geschlecht 1949 in Frankreich erscheint, löst es einen Skandal aus: Simone de Beauvoir schreibt offen über Tabu-Themen wie Prostitution, Sexualität und Abtreibung. Ihre Analyse ist umfassend, scharf und kompromisslos, ihre Botschaft radikal: Es gibt keinen Grund, Frauen zu unterdrücken, ihnen Gleichberechtigung und Freiheit zu verwehren. Französische Frauen haben zwar das Wahlrecht und laut Verfassung ein Recht auf Arbeit, Gleichberechtigung und gleiche Entlohnung, doch der Einfluss des Katholizismus ist groß, Frankreich generell konservativ und prüde. Frauen sollen vor allem Kinder produzieren, die traditionelle Familie und Mutterschaft gelten als weibliches Ideal, Schwangerschaftsabbrüche und Verhütungsmittel sind illegal. Gegen all das schreibt Simone de Beauvoir an: Sie fordert die Legalisierung von Abtreibungen, Zugang zu Verhütungsmitteln sowie wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit der Frauen.
„Wenn also die biologische Situation der Frau ein Handikap für sie bedeutet, so nur wegen der Perspektive, in der sie befangen ist.“ (Das andere Geschlecht)
Heute kommen uns all diese Dinge mehr oder weniger wie Selbstverständlichkeiten vor. Und so entsteht leicht der Eindruck, Das andere Geschlecht hätte modernen Leser*innen nichts mehr zu sagen, sei nicht viel mehr als ein historisches Artefakt. Aber das stimmt nicht. Vieles von dem, worüber Beauvoir damals schrieb, ist heute hochaktuell und augenöffnend. So analysiert sie, warum viele Frauen lieber in ihrer Unterdrückung verharren als sich daraus zu befreien. Emanzipation, stellt Beauvoir fest, ist eben schwierig und oft ist es bequemer und bringt sogar Vorteile, wenn Frauen sich den gegebenen Umständen anpassen, statt zu rebellieren. Sie fragt nach Solidarität unter Frauen und erklärt, dass Frauen sich eher mit Männern aus ihrer eigenen Klasse solidarisieren würden, als mit Frauen aus anderen Klassen – eine Absage an die immer wieder beschworene „Schwesternschaft“. Und sie geht auf die Befürchtung ein, dass eine gleichberechtigte Beziehung den Tod der Sexualität bedeutet (ernsthaft!).
Das andere Geschlecht zeigt, dass das Private politisch ist. Es macht ganz deutlich, dass wir nichts von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint – Verhütungsmittel zum Beispiel – als selbstverständlich hinnehmen sollten. Dass der Kampf immer weiter geht. Simone de Beauvoir verlangt Frauen in diesem Kampf einiges ab: Wenn sie wirklich frei sein wollen, dürfen sie sich nicht hinter Ausreden verstecken, nicht den bequemen Weg gehen, nicht ihre Weiblichkeit als Waffe einsetzen. Das klingt hart, und das ist es auch. Es kann aber genauso motivierend wirken: Mach weiter, gib nicht auf! Deswegen lese ich Das andere Geschlecht immer wieder, seit ich 18 bin. Und finde, viel mehr Menschen sollten dieses starke, radikale Buch nicht nur in ihrem Regal herumstehen haben, sondern es tatsächlich mal lesen.