Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört. So etwas kann man ja gar nicht so meinen, es sei denn man besitzt keine einzige Hirnzelle. Ich saß beim Arzt im überfüllten Wartezimmer und mein Termin war bereits seit 45 Minuten überfällig. Aber nein, ich hatte richtig verstanden. Nach einer gefühlten halben Stunde konnte ich es mir auch einfach nicht mehr schön reden: Die zwei Herrschaften neben mir – ein Mann Mitte 50 und eine Sie Ende 30 – unterhielten sich nämlich in einer mittelmäßig-dezenten Lautstärke in einer Art und Weise über „das Flüchtlingsproblem“ und die „Ghettozustände“ hier „bei uns“, dass mir entsetzt der Atem stockte.
In Zeiten von AFD zwischen den Trumps und Le Pens dieser Welt, weiß ich selbstverständlich, dass sie ja irgendwoher kommen müssen, die verwirrten Wählerstimmen, klar. Aber das volle Ausmaß der menschlichen Abgründe, die sich in diesem Zusammenhang auftun, waren mir ganz offensichtlich nicht mal im Ansatz bewusst. Ich, mittendrin in meiner Bubble aus Andersdenkenden, Kreativen und sehr freundlichen, offenen Menschen, wurde plötzlich mit einer entsetzlich unangenehmen Realität konfrontiert. Ich war sofort auf 180. Und dann wurde mir klar, dass ich diesen Menschen ihren mit Schenkelklopfer-Humor getarnten Rassismus nicht einfach durchgehen lassen durfte. Ich muss etwas sagen. Laut und deutlich und so, dass es alle mitbekommen. Aber ich schwieg. Eine ganze Weile.
In Wahrheit war ich nämlich zwar superwütend, aber ansonsten komplett gelähmt. Ich starte auf mein Handy und öffnete ohne Sinn und Verstand irgendwelche Apps, während ich mich versuchte, verkrampft auf das Gespräch neben mir zu konzentrieren. Als würde ich mir selber auf der Schulter sitzen und zwischen den Zähnen hervorpressen, dass es gut sein könne, dass ich diesen Menschen Unrecht täte, dass ich zu empfindlich sei, etwas falsch verstanden habe und überhaupt mich gleich gar nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen müsse. Selbst nachdem Worte und Halbsätze wie „Drecksviecher“, „einfach eine Bombe reinwerfen“, „immer draufhalten“ und „bitte über dem Mittelmeer abwerfen“ gefallen waren, war ich noch unsicher. Das hat mich in der Situation eigentlich am allerwütendsten gemacht. Denn diese Höflichkeit und Vorsicht, die ich oft in völlig übertriebenem Maße an den Tag lege, stand in diesem Moment mir selbst und der Gerechtigkeit völlig im Weg.
Plötzlich war sie wieder da
Schließlich gingen die beiden raus zum Rauchen und ich war ehrlich gesagt ziemlich erleichtert. Ich versuchte meine Gedanken zu sammeln und das eben erlebte abzuschütteln. Aber nichts half. Inzwischen war ich so wütend, dass mir die Tränen kamen und ganz leise über meine Wangen liefen. Ich schrieb eine SMS an meinen Freund: „Es ist nicht auszuhalten wie dumm, gemein und unfair Menschen sind. So abstoßend. So ekelhaft rassistisch. Konnte ich mir gerade 30 Minuten lang im Wartezimmer anhören und habe mich nicht getraut etwas zu sagen. Es war so schlimm und ich fühle mich so schuldig und schlecht, dass ich nichts gesagt habe, ich habe mich einfach nicht getraut.“
Inzwischen kamen die beiden Spezialisten vom Rauchen zurück und setzten sich wieder neben mich. Das Gespräch ging exakt an der Stelle weiter, wo es aufgehört hatte. Und bevor mein Freund mir irgendetwas beruhigendes antworten oder ich mich besinnen konnte, beugte ich mich nach vorne und fand aus dem Nichts endlich meine Stimme wieder. Ich sagte ruhig, aber laut genug für alle anderen hörbar: „Sie wissen schon, was sie da für eine Unterhaltung führen, oder? Was sie sagen ist hochgradig rassistisch, asozial, peinlich und extrem abstoßend. Die Art und Weise wie sie über Menschen reden, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, finde ich einfach nur schrecklich. Sie sollten sich beide schämen.“
Tough nach außen, Katastrophe nach innen
Meine Stimme war ganz ruhig und bestimmt. Aber innerlich bin ich fast gestorben. Und dann passierte etwas, was mich gleich wieder in den nächsten Wutstrudel fallen ließ. Ich fing so stark an zu zittern. Ich hätte in diesem Moment nicht mal aufstehen können. Ich umklammerte mein Handy, damit man nicht direkt sehen konnte, dass meine Hände so unkontrolliert vor sich hinzuckten. Ich traute mich kaum aufzuschauen. In dem Moment legte ich das als Schwäche aus, als fehlendes Selbstbewusstsein und machte mich völlig fertig deswegen. Anstatt zu sehen, dass ich es immerhin fertig gebracht hatte, etwas zu sagen, mich stark zu machen für etwas, an das ich glaube. Anstatt zu sehen, dass „mutig sein“ sich eben nicht auf jeden Fall total heldenhaft anfühlt, sondern einen schwieriger innerer Kampf bedeutet, der ganz viel von Angst beeinflusst wird. Ich hatte tatsächlich Angst. Angst davor, den Leuten Unrecht zu tun. Angst davor, das ganze Wartezimmer gegen mich zu haben. Angst, nicht die richtigen Worte zu finden. Angst loszuheulen oder rot zu werden. Ich habe mich danach nicht wie eine Heldin gefühlt, so ganz und gar nicht. Und es war sauschwer, meinen Mund aufzumachen.
Es ist keine Schande, wenn man nichts sagt. Es ist sogar verständlich und ich habe schon so viele Male nichts gesagt, ich kann es gar nicht mehr zählen. Alle tun immer so, als hätten sie auf jeden Fall die Courage, andere auf ihr Fehlverhalten aufmerksam zu machen, aber wer handelt dann auch tatsächlich? Oder anders gesagt, wer wirklich hält, was er verspricht, dem gebührt mein größter Respekt. Aber der gebührt auch jedem, der sich in diesen Momenten wenigstens darüber nachdenkt, was richtig und was falsch ist. Mut gibt es nicht ohne Angst und genau deshalb ist es auch so schwer, ihn tatsächlich in die Tat umzusetzen. Nach dem Vorfall im Wartezimmer habe ich mir vorgenommen, mich öfter an diese Situation zu erinnern, in der ich etwas gesagt habe, obwohl ich Angst hatte. In der ich meine Angst überwunden habe. Denn ich glaube, dass man besser darin werden kann.