„Du bist einfach zu empfindlich“ – ein Satz, den ich gefühlt jede Woche einmal zu hören bekomme. Ich bin damit nicht alleine, höre auch immer wieder ähnliches von Freundinnen (merke: Frauen). Zwar gibt es durchaus auch Männer, die immer wieder als „zu empfindlich“ eingestuft werden, in der Regel aber würde ich sagen, dass Männern in den meisten Fällen schon im jungen Alter eingeimpft worden ist, erst gar keine Äußerungen zu tätigen oder Empfindungen zu zeigen, die diese Schlussfolgerung untermauern könnten. Empfindlich zu sein ist tendenziell etwas Negatives, gleichbedeutend mit schwächlich, weich, jammerig und ja, feminin. Man „hält einfach nichts aus“ und „knickt eben schnell ein“. „Du bist zu empfindlich“ – das fühlt sich degradierend an, wird zwar oft kaschiert mit einem halb freundlich gemeinten Überbau, dient aber letzlich nur dem Verletzen seines Gegenübers. Ein Absprechen des Rechts auf die eigenen Gefühle. Das macht mich wütend. Denn nur, weil anscheinend irgendwann irgendwer beschlossen hat, dass Gefühle im Allgemeinen Prozesse verkomplizieren und verlangsamen, ändert das nichts daran, dass ich welche habe. Und weiterhin haben werde. Und mir nicht das wegnehmen oder absprechen oder verbieten lasse, was mich menschlich macht.
Oft ist nämlich das Gegenteil von dem, was mir um die Ohren gehauen wird, tatsächlich der Fall. Wenn ich ehrlich an etwas glaube, Ungerechtigkeit empfinde oder einfach wahnsinnig betroffen bin, dann bin ich zwar natürlich emotional gestresst. Gleichzeitig bin ich aber gerade in diesen Situationen am stärksten – weil ich ehrlich zu mir und meinem Gegenüber bin. Ich versuche, nichts zu verstecken oder härter rüberzukommen als ich bin. In diesen Momente weiß ich genau, wer ich bin und wofür ich stehe. Ich bin so klar wie vielleicht sonst nie. Meine Emotionalität, meine „Empfindlichkeit“ ist meine größte Stärke.
Es begegnet einem immerzu, im Job, aber auch im Privatleben und unter Freunden. Insbesondere letzteres ist für mich oft verheerend – viel mehr als beruflich bedingte Auseinandersetzungen oder Diskussionen. Und die Sorge vor einer solchen Konfrontation hat mich lange Zeit geleitet. Ich habe mich jahrelang selbst als empfindlich bezeichnet und diese zuvorkommende Selbstgeißelung oft sich anbahnenden Diskussionen oder Gesprächen vorangestellt – als müsste ich mich schon vorher pro forma dafür entschuldigen, dass ich gleich alles verkompliziere mit meinen übertriebenen Emotionen. Aber kein Wunder: Man muss es nur lang genug vorgehalten bekommen, dann glaubt man es irgendwann auch.
„Du bist halt zu empfindlich“ ist ein so mächtiges Totschlagargument. Es spricht mir das Recht auf jede emotionale Regung oder auch nur auf die Einschätzung einer Situation völlig ab, macht mich automatisch und ohne Umweg zur Verliererin des Diskurses, egal, wie stichhaltig meine Argumente auch sein mögen. Zumindest im Auge meines Gegenübers. Wenn einem eine solche Grenzüberschreitung oft genug passiert, wird einem aber irgendwann eines klar: Wer mit der Negierung der Gefühlswelt seines Gesprächspartners argumentiert, der will keine Erkenntnis, keinen fruchtbaren Austausch. Der will gewinnen. Und vor allem seine Ruhe. Ich habe lang gebraucht, um für mich zu erkennen, dass mein Verhalten und vor allem meine Gefühlswelt okay ist. Und seitdem wende ich mich innerlich ab, sobald mir das Gegenteil suggeriert wird. Ich bin nicht bereit, Zeit und Kraft zu investieren in einen Dialog, der nicht ergebnisorientiert geführt wird. Ich brauche das nicht – und Menschen, für die „Empfindlichkeit“, also Empfindsamkeit, Empathie und Sensibilität, eine Schwäche ist, ebenso wenig. Ich finde Menschen von diesem Schlag nicht stark, leistungsorientiert und fokussiert. Ich finde sie eher gefährlich. Ich sehe, dass sie mit den Gefühlen anderer nicht umgehen können oder wollen, weil sie das wahrscheinlich auch mit ihren eigenen nicht können oder wollen.
Ich bin nicht länger bereit, mich zusammen zu reißen, um keine Angriffsfläche zu bieten. Denn ja, es kommt immer wieder vor, dass ich in einem ernsten Gespräch sehr emotional werde – aber ich verliere dabei weder meine Stärke, schwäche damit meine Position oder habe mich „nicht im Griff“. Im Gegenteil. Und ich erwarte Respekt dafür.
Gefühle und Emotionen können nur schwerlich als „falsch“ bezeichnet werden. Sie sind nicht steuerbar, sie sind echt echt und menschlich. Jemandem das Recht abzusprechen, etwas Bestimmtes zu spüren, ist, als würde man jemanden mit einer offenen Wunde verbieten, Schmerzen zu haben.
Manchmal wirkt es auf mich so, als gäbe es den gesellschaftlichen Konsens, dass Gefühle – bis auf ganz wenige Ausnahmen in ganz seltenen Ausnahmesituationen – als ein lästiges Überbleibsel aus der Vergangenheit zu gelten haben. Etwas, das unbedingt unterdrückt werden muss, weil es in die schnelllebige, digitale Welt des stetigen Informationsüberflusses nicht hineinpasst. Zu kompliziert, zu sperrig, zu zeitintensiv! Bitte weiterfunktionieren, bitte nicht den Ablauf stören!
Also: Nein, ich bin nicht zu empfindlich. Ich weigere mich nur, abzustumpfen.
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