Italien, Kalabrische Berge, November 2016. Der Gong in der Halle ist das Startsignal für ein Schweigeversprechen. Dem geschäftigen Geraune der aus aller Herrenländer angereisten Gruppe, weicht entschlossene Stille. Wir schlurfen den kleinen Hügel hinauf zu unseren Bungalows. Ich begrüsse die Mitbewohnerin nicht, räume meine sieben Sachen in den Schrank in der Ecke und setze mich auf die Pritsche vor dem Fenster. Handy, Laptop, Ladegeräte, ein paar Süßigkeiten, Bücher und weitere Habseligkeiten lagern in einer grünen Plastiktüte verstaut unten im Haupthaus. Unser kleiner Bungalow mit seinen zwei Zwergen-Betten wird immer offen bleiben.
Die nächsten zehn Tage werde ich hier kein Wort sprechen, tippen, schreiben oder lesen. Werde weite Kleidung und kein Make-Up tragen, wenig essen, langsam laufen, nicht rauchen, keinen Sport treiben, keine Musik hören oder gar das Gelände verlassen. Werde isoliert und auf das Notwendigste reduziert bescheiden wohnen und von morgens bis abends unter Anleitung meditieren – zur Ruhe kommen, Achtsamkeit praktizieren, Selbstkontrolle und inneren Frieden lernen. So der Plan. 10 Tage Schweigen. Ich bin bereit:
Und warum das Ganze? Ich bin hier, weil, ja – warum eigentlich? Und warum eigentlich nicht? Vielleicht weil es mir zu Hause zuletzt miserabel ging und nichts mehr richtig helfen wollte. Vielleicht weil mich aus drei ganz verschiedenen Richtungen der Hinweis für Vipassana erreichte und ich mal wieder spontan mein Köfferchen packte ohne zu wissen, was mich auf der anderen Seite eigentlich genau erwartet. Das Prinzip wird auf der Seite jedenfalls so erklärt:
„Vipassana ist eine der ältesten Meditationstechniken Indiens und bedeutet soviel wie ‚die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind'“. Vipassana wurde in Indien vor über 2500 Jahren von Gotama, dem Buddha, wiederentdeckt und von ihm als ein universelles Heilmittel gegen universelle Krankheiten, als eine Kunst zu leben gelehrt. Keiner bestimmten Religion zugehörig, strebt diese Technik, die vollständige Beseitigung geistiger Unreinheiten und letztendlich das Glück vollkommener Befreiung an.
Vipassana ist ein Weg der Selbstveränderung durch Selbstbeobachtung. Der Fokus liegt auf der tiefen Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist, die durch eine geschulte, auf die körperlichen Empfindungen gerichtete Achtsamkeit auf direktem Wege erfahren werden kann. Diese Empfindungen bestimmen das Leben des Körpers und beeinflussen so im ständigen Wechselspiel die Konditionierung des Geistes. Die auf eigene Beobachtung gründende, selbsterforschende Reise zu dem gemeinsamen Ursprung von Geist und Körper löst die geistigen Unreinheiten auf und führt zu einem ausgeglichenen Geist voller Liebe und Mitgefühl.
Die Naturgesetze, die unser Denken, unsere Gefühle, unsere Urteile und Empfindungen steuern, werden eindeutig erkennbar. Durch direkte Erfahrung wird verständlich, wie man Fortschritte oder Rückschritte macht, wie man Leiden schafft oder sich vom Leiden befreit.“
Soweit, so abstrus. Mit Esoterik und Religion habe ich nichts am Hut, soviel steht fest. Manchmal spüre ich zwar eine lodernde Hexen-Energie in mir, das wars dann aber auch schon – ansonsten ist Meditation und abstinentes Buddhaleben komplettes Neuland für mich. Ich kann wirklich nicht sagen, dass es sich nicht irre anfühlt, hier eine ganze Menge Zeit verbringen zu sollen, schweigend meditierend, im Schneidersitz, den lieben langen Tag. Kann nicht sagen, dass ich es besonders normal finde, mit einer wildfremden Person Zimmer und Bad zu teilen oder in den nächsten Tagen nicht zum Meer runter rennen zu dürfen, obwohl es mir doch direkt vor der Nase liegt. Oder nachts zum Kühlschrank oder ins Instagram. Es ist der helle Wahnsinn, die Sichtschutze zwischen dem Männerlager und dem Frauenlager draußen im Wind flattern zu hören. Das Verlangen, meiner Mama und Freunden zu schreiben, dass ich angekommen bin (OMG, ich hab’s echt wahr gemacht, Muddi) und es mir gut geht, ist groß, das Bett ist steinhart und mit einer Mischung aus Vorfreude und Schiss liege ich wach und warte auf den ersten ungewissen Tag. Das Licht ist schon seit 22 Uhr gelöscht. Die Liste der Verbote, die ich bei Ankunft unterschreiben musste ist länger, als jeder Medikamentenbeipackzettel. Habe die Berliner Göre an der Eingangstür abgegeben. Ich wüsste gern, wer es mir alles gleich tat und hier her an die Spitze des Stiefels angereist ist. Ich weiß nicht, woher die ganzen Frauen und Männer kommen und was sie dazu bewegt hat, ob sie das erste Mal dabei sind oder schon zu den „Alten“ gehören. Werde das alles erst in zehn Tagen erfahren, wenn wir alle miteinander quatschen dürfen. Eleonora heißt meine Mitbewohnerin, was für ein schöner Name, das steht zumindest auf ihrem Koffer-Zettelchen – und sie wohnt sonst in Rom.
Ich liege wach und würde alles für eine Zigarette am Strand tun. Aus dem Koffer im Schrank ruft ein geheimes Versteck mir zu: „Noch kannst du fliehen, Scalamari, einfach Sachen packen und raus hier. Was soll der Scheiß? Warum schaffst du dir denn dein eigenes Gefängnis? Nimm‘ die Beine in die Hand, zünd dir ne Kippe an und mach dir ein paar geile Tage in einem Spa-Hotel in der Gegend. Mit Wein und Balkon und WiFi“. Mit diesen Gedanken schlummere ich doch irgendwann auf meiner Matte ein. Um Vier Uhr schlägt der Gong zur ersten Meditationseinheit, am ersten richtigen Tag. Es ist mitten in der Nacht und ich bleibe einfach liegen, denke ich mir….
Und wie das so lief, mein erster Tag, und der ganze stille Rest, das erzähle ich euch im nächsten Teil.