Ruhe, bitte! 10 Tage Vipassana
Schweigemeditation – Teil II

30.05.2017 Leben, Kolumne

Teil I findet ihr hier.

4.30 Uhr, so früh bin ich ja überhaupt noch nie im Leben aufgestanden. Auch in der Italienischen Stiefelspitze ist es um die Uhrzeit also noch dunkel. Auf geht’s, es gilt den Tag mit Schweigen zu füllen. Ich krieche also in meine Meditationsklamotte aka die tannengrüne Jogger und den Riesenpulli vom Ex. Weder das Radio beim Zähneputzen, noch der morgendliche Newscheck durch die Kanäle begleitet den Morgen. Zum gemeinsamen Frühstück sind die ungezuckerten Cornflakes das Einzige, was Geräusche von sich gibt. Jeder glotzt auf sein eigenes Müslischälchen.

Ich will Eleonora, meiner stummen Mitbewohnerin, zu gern am Arm reißen und brüllen „Wie geil ist dieser Ausblick, bitteee?“ als wir auf dem Weg zum Haupthaus vom Sonnenaufgang über dem Atlantik zwischen den Bergen begrüßt werden. Stattdessen nur ein mentales High Five in mich hinein und ein paar Gedanken in die Heimat. Fühlt sich gut an? Fühlt sich gut an! Der strenge Rahmen, der nicht wenig an Gefängnis-Isolation erinnern lässt, engt mich aber überraschenderweise gar nicht ein, sondern befreit seltsam schön. Entscheidungen, die zu Hause schon mit dem Brötchenbelag beginnend quälen, werden hier abgenommen, wie einem Baby. Die Struktur ist ein festes Korsett. Frage mich, wann ich dieses Gefühl das letzte Mal in Berlin so hatte, als Selbstständige, die ihre Texte gern im Bett schreibt und auch mal erst um 16 Uhr aus ihrem Pyjama krabbelt.

Aber eine Frage glüht wie die mediterrane Morgensonne zwischen den Bergspitzen: „War ich überhaupt hier, wenn keiner ein Foto davon macht?“ Hoch-Philosophische Gedanken. Ich merks in mir aufsteigen. Da, horch, es geht schon los. 

Im Meditationsraum nehme ich auf dem platten Kissen mit meinem Namenszettlechen dran Platz. Von dem aufgehenden Novemberlicht draußen, ahnt man hier dank abgedunkelter Fenster rein gar nichts. Die Männer benutzen einen anderen Eingang als die Frauen und sitzen dann auf der gegenüberliegenden Raumseite auf ihren quadratischen Matten. Irre ich mich oder haben hier alle zumindest schon ein bisschen mehr Plan von der Materie „Meditation“? Ein heimlicher Auscheck-Blick in die Runde lässt das jedenfalls vermuten. Ich sehe Batikgewänder, mitgebrachte Sitzkissen, Rastazöpfe, riesige Schals umgeschlungen, nackte Füße, Henna. Ich sehe sehr alte Damen und junge Mädchen. Und ich sehe mich in meiner Jogginghose, heimlichen Concealer, Mascara und Rouge aufgelegt – und fühle mich wie die verirrte Fashion-Tussi auf Esotrip. Auch auffällig: Sobald das Sprachorgan Pause hat, rattert der Kopf anscheinend gefühlt noch viel mehr als sonst schon rum.

Mit den Gesichtern zu uns Lehrlingen gewandt, sitzen die Lehrer dieser buddhistischen Praxis, für die wir alle hier sind. Zwei Frauen vor den Frauen, zwei Männer vor den Männern. Im Lotussitz, mit geschlossenen Augen. Über die Boxen ertönt die Stimme von „Goenka“ – mit Hilfe seiner Technik lernen wir in den nächsten Tagen meditieren. Heißt übersetzt: Von morgens 4.30 Uhr bis abends 21 Uhr komplett scheinbar regungslos da sitzen, beobachten, den Körper abscannen und atmen, atmen, atmen. Über allem steht: „Alles entsteht, um wieder zu vergehen“. Jedes Gefühl, jeder Schmerz, jede Freude hat irgendwann ein Ende. Das ist einerseits ernüchternd bis zum Gehtnichtmehr, andererseits hilft es, auch bei der teilweise sehr schmerzlichen Sitzerei. Innen und außen.

In den ersten drei Tage widmet sich die Vipassana-Praxis mit dieser Technikanleitung nur einem kleinen Abschnitt im Gesicht. Das Dreieck zwischen Nase und Lippe ist die „Übungswiese“. Konzentriert sich auf Atmung, Kribbeln, Impulse usw. Schritt für Schritt knöpft man sich dann den ganzen Körper vor. Ziel ist es, über die körperliche Ebene, innere Verunreinigungen, die sich über die Zeit angehäuft haben, aufzulösen. Simpler könnte man sagen: Ein innerer Schmerz lässt sich so mit Übung über die Haut abtransportieren und verflüchtigt sich nach vielen Wiederholungen irgendwann ganz und gar.

Im Nachhinein habe ich das Gefühl, mir geht es wie einer Mutter, die nach der Geburt dank natürlich angelegter Prozesse, qualvolle Momente dieses Geburtsvorganges vergessen ließen. Ich weiß nämlich heute nicht mehr, wie schlimm es vor Ort für mich war, das alles auszuhalten. Aber ich weiß noch, dass ich an Tag vier bitterlich weinend in der Konsultationsminute vor meiner Lehrerin hockte, im Bungalow den gepackten Koffer wusste und mir ausmalte, wo ich als nächstes absteigen werde, wem ich wohl von meinem abgebrochenen Scheitern erzählen könnte und wie unglaublich gern ich sofort eine halbe Kuh verspeisen würde, sobald ich aus dem Gelände rausgestürzt bin. Meinem Weinen entgegnete die Lehrerin aber keinesfalls mit Mitleid oder etwa Motivationshymnen, sondern nur mit ein paar nüchternen Worte darüber, dass ich das selbst entscheiden müsse und auch nur dann weitermachen dürfe, wenn ich mich mental stark genug dafür fühlte. Meine aufgerissenen Heulaugen stießen auf strenge Blicke. Vier Menschen waren bis dahin schon abgereist. Warum weiß keiner – konnten wir uns aber alle denken – nur die Harten, und so weiter. Was für ein Oberscheiß. Ich will weg. Wieder essen und reden, wann und wo ich will. Der ganze Schwachsinn hier fuckt mich so ab. Die Ameisenstraße durchs Zimmer bekommt immer mehr Anhänger. Töten verboten. Darüber diskutieren auch. Hunger, Bock, Krise. Sitzen tut weh, vegan essen tut weh, nicht draußen zu sein tut weh, die Gedanken während des Meditierens, die tun am allermeisten weh. Der Gong zur Nacht dröhnt mir in den Knochen. Um Punkt 21 Uhr schlafe ich wie jede Nacht komplett erschöpft ein. Der Nächste Tag ist wie ein geplatzter Knoten. Als hätte man meine arrogante Sturheit hier gebrochen. Mein Anti-Anti-Drang zerlegt. Auf einmal tut nichts mehr weh und fühlt sich stattdessen leicht und gut an. Es gelingt mir mich auf die Praxis zu konzentrieren und jeden Tag besser zu werden. Morgens aufzustehen funktioniert plötzlich kinderleicht und ich schlafe wie ein kleines glückliches Baby. Ähnlich, wie ich es schon von meinen Fastenkuren kenne. Heimweh, Fehlanzeige. Es ist ein Glücksgefühl und das erste Mal dieser Reise ein Bewusstsein für mich, aus mir heraus. Ich fühle MICH ohne äußere Einwirkungen oder Ablenkung. Wisst ihr, was ich meine? Ich glaube, das trifft es am besten.

Am vorletzten Tag wird noch nach gewohntem Plan meditiert, gegessen und geschlafen. Mit der Ausnahme, dass Reden nun erlaubt ist. Jetzt könnt ich zwar auch noch länger ohne – trotzdem setzt das endloses Geschnatter unmittelbar ein. Eine Befreiung, die ich mir vorher nicht im Traum so vorgestellt hätte. Ich erfahre, dass ich die ganze Zeit neben einer Berlinerin im Meditationsraum saß und auch, dass es schon eine ganze Hand voll „alter“ Schüler unter uns gibt, die teilweise jedes Jahr kommen. Mal hier, mal irgendwo anders auf der Welt. Es befindet sich ein ganzer Haufen verschiedener Religionen unter uns. Ich habe außerdem die Gelegenheit mit den Helfern zu sprechen, die ehrenamtlich in der Küche und bei der Organisation mitwirken.

Für mich bleibt es schwer, die Erfahrung hier in Worte zu fassen oder in irgendetwas zu messen. Mit Abstand ist dieses Camp hier das Besonderste, was ich jemals erleben durfte und wirkt bis heute nach. Es wäre utopisch und absurd zu glauben, dass mir die zehntägige Reise geholfen hat, mein Leben zu ändern. Aber in 1 von 10 Malen kann ich hier, zurück zu Hause, doch anders reagieren, als ich es davor getan hätte. Übrigens, es bleibt jedem am Ende selbst überlassen, wie viel Geld ihm die Zeit hier Wert ist. Es ist ein spendenbasierter Aufenthalt. Fest steht, ich werde es wieder tun. Ob im Ursprungsland Indien, Deutschland oder sonstwo auf der Welt.

8 Kommentare

  1. Mari

    Toller Text! Macht neugierig, aber auch ein bisschen Angst, es auch mal zu probieren. Auf jeden Fall hast du eine großartige Fähigkeit, Gefühle zu transportieren.

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  2. s.g.

    so viele zeichen über so wenig zu schreiben und einen bis zum letzten wort den atem anhalten lassen. hast du wirklich großartig wiedergegeben; danke. bin gespannt, was als nächstes kommt.

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  3. Sophie

    Hey,
    deine Artikel haben mir total Lust gemacht sowas auch mal auszuprobieren!
    Darf ich fragen, wie du das Kloster gefunden hast?
    Geht man dort einfach hin und fragt, ob die einen Platz frei haben?

    Liebste Grüße
    Sophie

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  4. blixa

    hört sich sehr spannend an! darf ich fragen wie das kloster geheißen hat?
    alles liebe für dich
    blixa

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  5. Julia

    Hallo ihr lieben,
    toll geschrieben. 1000 Dank dass ihr das mit uns geteilt habt. Verratet ihr wo es war? Bin schon lange auf der Suche nach sowas. Gerne auch per mail.

    Liebst, Julia

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  6. e

    Liebe Scalamari,
    könntest du mir bitte per pn bitte den Namen des Klosters verraten. Das wäre fabelhaft.

    Lieben Gruß

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