Ich befinde mich zur Zeit auf einer rasanten Fahrt quer durch meine Gefühlswelt. Nicht nur hat der Umzug nach Berlin alles durcheinander gewirbelt, sondern überhaupt hat es 2017 emotional gesehen voll in sich. So ist mir vor einigen Tagen aufgefallen, dass ich an so manchen Freitagen und Sonntag ganz schön privat geworden bin. Vielleicht fällt das gar nicht so wirklich auf, aber für meine Verhältnisse grenzt der ein oder andere Artikel schon stark an Herz ausschütten, wenn ich ehrlich schreibe, was mich gerade umtreibt. Wenn ich ab und zu mal zurückrudere oder zugebe, dass ich mich verrannt habe. Wenn ich davon erzähle, wie nahe mir manche Dinge wirklich gehen, auch wenn man das nach außen hin nie zeigen würde. Früher hätte ich alles für mich behalten, es im Nachhinein so gedreht, als hätte ich es eh von Anfang an alles gewusst, als wäre ich nicht überrascht und völlig konstant in meinen Entscheidungen und meinen Wegen gewesen. So bin ich nämlich aufgewachsen. Eben mit der erlernten Gewissheit, dass Ehrlichkeit nach außen meistens der falsche Weg ist. Dass man aufpassen muss, was man sagt und dass man nur kalkulierbare Risiken eingehen sollte. Andere Menschen können und wollen einem was, Offenheit und Vertrauen sind der Anfang vom Ende und das Streben nach Perfektion bedeutet das Streben nach unerschöpflicher Stärke. Ehrlich gesagt, habe ich tief in mir immer an dieser Lebenseinstellung gezweifelt und früh gemerkt, dass es ganz schön einsam macht, niemanden zu brauchen oder zumindest zu denken, man könnte alles alleine schaffen. Und trotzdem habe ich es lange nicht geschafft, mich aus diesem Denkmuster zu befreien. 27 musste ich werden, um zu erkennen, dass man sich durchaus auf sein Bauchgefühl verlassen kann, dass geteiltes Leid tatsächlich halbes Leid ist und dass es eine ganze Menge gibt zwischen Schwarz und Weiß.
Was man schon mit der Muttermilch aufsaugt, das ist schwer wieder aus dem System zu kriegen und überhaupt erstmal schwer zu hinterfragen. Es ist unfassbar, wie lange man sich einem Verhalten hingeben kann, obwohl man unterbewusst schon genau merkt, dass die Gründe für Unglück oder Einsamkeit doch irgendwie in seinen eigenen Einstellungen zu finden sind.
In meiner Familie ist es beispielsweise normal – oder, ja man könnte sagen; eine Tugend – wenn man Probleme mit sich selber ausmacht, wenn man niemand anderen braucht und wenn man einfach so lange hart an sich arbeitet, bis man sich durch alle erdenklichen Aufgaben völlig eigenständig durchkämpfen kann. Da schwingt auch mit, dass eine emanzipierte und immer gleichbleibend starke Außenwirkung das universelle Ziel ist. Völlig klar, dass diese Eigenschaften deshalb bei mir extrem gut ausgeprägt sind, sie haben mich unabhängig gemacht, stark und selbstbewusst. Klingt ja auch erstmal alles super und vielleicht für viele auch erstrebenswert. Es gibt mir auch tatsächlich sehr viel Sicherheit zu sagen, dass ich niemand anderen brauche, um in meinem Leben zurecht zu kommen. Und das stimmt auch, Unabhängigkeit bedeutet Kontrolle und Freiheit. Das Ding ist eben nur, dass es nicht die ganze Wahrheit ist. Denn ich war die meiste Zeit in meinem Leben selbst gewählt sehr einsam. Die Vorteile von sozialen Kontakten, gegenseitiger Hilfe und gleichberechtigter Teamarbeit habe ich ganz lange nicht zu schätzen gewusst. Ich habe sie sogar abgelehnt und lieber mein eigenes Ding gemacht, immer Verantwortung übernommen und selbst, wenn ich nicht mehr weiter wusste, niemand anderes um Rat gefragt. Selbstredend, dass einem deshalb a) eine Menge Zeit verloren geht, wenn man alle Erfahrungen selber sammeln will und man b) von Problem zu Problem kraftloser wird, wenn man sich nicht austauscht, sein Herz ausschüttet und zulässt, dass man Wege eben auch mal ein Stück gemeinsam gehen kann.
Dass ich es geschafft habe, mich aus diesem gesellschaftlich betrachtet extremen Verhalten zu lösen und mich mehr in Richtung Mitte und gemäßigter Herangehensweise zu bewegen, habe ich ausschließlich anderen zu verdanken. Ausgerechnet anderen, von denen ich doch immer dachte, dass sie mich nicht wirklich weiterbringen können, weil ich doch selbst immer weiß, was für mich am besten ist. Meine liebsten Menschen, die mir in meinem nahen Umfeld geduldig zur Seite standen und brav abgewartet haben, bis ich endlich begriffen hatte, dass ihre Offenheit und Nähe ausschließlich positiv gemeint sind und dass Ehrlichkeit nicht automatisch bedeutet, dass man sich unüberwindbar angreifbar macht. Durch die Auseinandersetzung mit radikalen Thematiken wie Nachhaltigkeit und Veganismus und all ihren wertvollen und nervigen Gegenstimmen. Durch die Arbeit als Autorin für Jane Wayne, die mir eine riesige Plattform gegeben hat, um mich ganz offiziell und für alle sichtbar an schwierigen Themen zu versuchen, ohne 100 Prozent genügen zu müssen. Durch die Kommentare, die zum größten Teil inspirierend und unterstützend waren. Durch Nike, Sarah und alle Janes, die einzeln und als Team so wunderbar herzlich, unterstützend und toll sind. Noch nie in meinem Leben zuvor habe ich so viele inspirierende Menschen um mich herum gehabt und kann manchmal gar nicht glauben, wie lange ich gebraucht habe, um solche wertvollen Dinge tatsächlich zu zu lassen.
Ich bin so unendlich dankbar, dass ich heute so viel reflektierter darüber denken kann und hinterfragen kann, was für mich lange selbstverständlich war. Dass ich erfahren durfte, dass es nichts schöneres gibt, als eben nicht alleine zu sein, wenn es schwer und unübersichtlich wird. Dass es keine Schwäche ist, über seine Ängste und Zweifel zu sprechen und im Gegenteil sogar stark ist zu erkennen, wenn man den falschen Weg eingeschlagen hat, zu streng mit sich oder anderen war oder sich verrannt hat. Je mehr ich mich anderen gegenüber geöffnet habe, desto mehr habe ich zurückbekommen. Nichts von dem, was ich gedacht habe, was eintreten könnte, ist tatsächlich passiert. Dafür habe ich so viel mehr gewonnen – allen voran, besser zu mir selber zu sein und ein völlig neues Level an Freiheit und Frieden kennenzulernen, das man nur bekommt, wenn man sich nicht ständig verstecken muss, nicht auf der Hut sein muss und Stärke und Selbstsicherheit vorzuspielen braucht, wo vielleicht manchmal gar keine ist. So viel wichtige Energie ist mir auf diesem Weg verloren gegangen, die mich, anders eingesetzt, schon viel früher auf ein ganz anderes Level an Lebensqualität hätte katapultieren können. Aber besser spät als nie und so steht für mich ganz klar fest:
Noch mehr Mut zu Offenheit und Verletzlichkeit. Noch weniger Angst vor Urteilen und Ablehnung – vor allem, weil ich lernen durfte, dass letzteres oftmals gar nicht eintritt. Im Gegenteil sogar.