Danach fragt Michèle Binswanger in ihrem Buch Fremdgehen.
Am Ende braucht der Richter mehrere Stunden, um sein 160 Seiten starkes Schlusswort zu verlesen. Darin aufgelistet sind die zahlreichen Beweise für die moralische Verkommenheit der Angeklagten: Margaret Campbell, geborene Whigham und spätere Herzogin von Argyll, so sieht es der Richter erwiesen, hat ihre Promiskuität offen gelebt, oft in Form „widerlicher sexueller Praktiken“. Als Beweise dienen vor allem mehrere Polaroid-Fotos, auf denen Campbells einem Unbekannten einen Blowjob gibt. Dass es sich bei dem Unbekannten nicht um den Gatten Campbells handelt, sondern um einen ihrer zahlreichen Liebhaber, beweist in den Augen des Richters einmal mehr die sexuellen Perversionen der Angeklagten. Der Prozess um die Ehebrecherin und Nymphomanin Margaret Campbell endet mit einem Schuldspruch – der Ruf Campbells in den Kreisen der britischen High Society ist ruiniert.
Die Geschichte dieses Prozesses von 1963, bei dem Margaret Campbell von ihrem entfremdeten Ehemann wegen Untreue vor Gericht gezerrt wurde, erzählt die Schweizer Journalistin Michèle Binswanger in ihrem neuen Buch Fremdgehen. Ein Handbuch für Frauen. Der Titel erinnert an einen der typischen Sexratgeber, dahinter verbirgt sich aber eine oft sehr differenzierte und spannende Untersuchung des Themas Fremdgehen aus weiblicher Sicht. Gleich zu Beginn wirft Binswanger jede Menge Fragen auf: „Ist es vielleicht gar nicht die Untreue, die Ehen kaputtmacht, sondern die unrealistischen Erwartungen, dass Sex nur innerhalb der Ehe stattfinden soll? Und betrifft dieses Problem Frauen nicht auch deshalb besonders, weil sich ihre Sexualität anders entwickelt als die der Männer? Weil sie oft Jahre brauchen, bis sie überhaupt Freude an ihrer Sexualität entwickeln?“. Und weiter: „Warum halten wir es für normaler, von einer monogamen Kurzzeitbeziehung zur nächsten zu eilen, als außereheliche, sexuelle Kontakte in Kauf zu nehmen?“.
Alles Schlampen außer Mutti
Ja, warum? Für Frauen, das macht Binswanger deutlich, sind die Ausgangsvoraussetzungen eben immer noch andere als für Männer. Seit den 1960ern, seit dem Skandal-Prozess um die vermeintlich liederliche Gräfin, hat sich zwar einiges getan: Die Hippies propagierten freie Liebe, Sex ist nun auch außerhalb der Ehe okay und Begriffe wie ‚Polyamory‘ finden sich selbstverständlich in den Medien. Doch als Frau die eigene Sexualität selbstbewusst und ja, egoistisch, auszuüben, ohne Scham, ist immer noch eine Art Tabu. Promiskuitive Frauen gelten schnell als ‚Schlampen‘ oder ‚Flittchen‘, während Männer mit häufig welchsenden Sexualpartnerinnen als ‚toller Hengst‘ oder ‚Stecher‘ gelten.
Dabei, das haben Studien mittlerweile gezeigt, verfügen Frauen nicht – wie jahrhundertelang angenommen – über einen geringeren Sexualtrieb als Männer: Sie leben ihn oft nur anders aus. Binswanger stellt fest: „Männern fällt es angeblich schwer, treu zu sein. Frauen auch. Frauen sind aber eher bereit, ihren Trieb zu verleugnen, weil sie ihn oft gar nicht so genau kennen.“ Doch es gibt sie natürlich, die Frauen, die zum Seitensprung bereit sind, deren ganzes Beziehungsmodell darauf basiert. Binswanger stellt einige von ihnen vor, darunter moderne Frauen, die in Gesprächen von ihren Erfahrungen mit der Untreue berichten, und historische Frauen wie Margaret Campbell oder Anna Mahler-Werfel. Dazwischen gestreut sind Ergebnisse von Studien zur weiblichen Sexualität, Überlegungen zu Treue, Moral und Eifersucht sowie einige praktische Regeln „an die sich Fremdgeherinnen in jedem Fall halten sollten“.
Und die Alternative?
Das alles liest sich sehr unterhaltsam und flott, Michèle Binswanger ist an vielen Stellen reflektiert und vermeidet ein allgemeingültiges Fazit. Um ein paar verallgemeinernde Aussagen kommt sie aber dennoch nicht herum. Zwar macht sie im Vorwort klar: „Wenn in diesem Buch also pauschale Aussagen über die Männer und die Frauen im Allgemeinen getroffen werden, so geschieht dies mit aller Vorsicht und im Bewusstsein dieser individuellen Unterschiede.“ Im Prinzip hätte das gut funktionieren können, indem Binswanger – wie sie es ja tut – zwischen Einzelschicksalen und Einschätzungen von Expert*innen sowie Studien abwechselt. So ganz passt die Mischung aber nicht: Die Geschichten der Fremdgeherinnen wirken manchmal etwas wahllos und eignen sich nicht dazu, pauschale Aussagen („Frauen schlafen nicht einfach nur mit Männern“) zu illustrieren und zu ergänzen. Schade ist auch, dass es, wie der Buchtitel verspricht, viel um Fremdgehen geht, aber wenig um tatsächliche alternative Beziehungsmodelle, wo Sexualität ganz offen auch außerhalb der Beziehung gelebt wird – dazu trägt vor allem der Fokus auf der „Ehebrecherin“ bei, wodurch suggeriert wird, Fremdgehen sei vor allem etwas, was verheirateten Menschen passiert.
Insgesamt jedoch liefert das Buch jede Menge Denkanstöße und nimmt vor allem sein Thema ernst. Es regt dazu an, sich selbst einige – eventuell unbequeme – Fragen zu stellen, nach dem eigenen Verhältnis zu Treue, Eifersucht und sexuellen Bedürfnissen. Michèle Binswanger sinniert: „Vielleicht sollten wie einfach anerkennen, dass Sexualität auch eine Art Heimat ist und ein Recht darauf hat, gelebt zu werden. Dass wir uns in unseren individuellen Bedürfnissen finden und nicht nach für uns vorgesehenen Rollen leben müssen. Einfacher werden Beziehungen dadurch nicht. Aber wenn man davon ausgeht, dass jede Beziehung ein Kunstwerk ist, so lohnt es sich, es wenigstens zu versuchen.“
Michèle Binswanger: Fremdgehen. Ein Handbuch für Frauen, Ullstein Verlag, erschienen am 11. August 2017