Wer ist Joan Didion? – Und ein Doku-Tipp

16.11.2017 Buch, Film

Joan Didion: Intellektuelle, Fashion-Ikone und eine der bekanntesten amerikanischen Autorinnen. Eine Netflix-Dokumentation nähert sich behutsamen und liebevoll dem Phänomen Didion.

Sie sitzt da, und sieht aus, als könnte der leichteste Windhauch sie wegwehen. Ein zartes Persönchen mit einer überraschend rauen und entschiedenen Stimme. Beim Reden mit den Armen weit ausholend, raumgreifend, nahezu dramatisch. Als sei sie eine Dompteurin, die wilde Raubtiere mit dominierenden Handbewegungen dressiert, zähmt. Vielleicht sind diese großen Gesten aber auch nur ein Schutz, ein Weg, Abstand zu schaffen: Denn Joan Didion spricht über sich selbst, und das tut sie bekanntermaßen nicht besonders gerne. Wobei, nein, so ganz stimmt das nicht: Wie kaum eine andere schafft Didion es in ihren Essays, über das große Ganze zu sprechen, wenn sie von sich spricht. Von sich selbst ausgehend den Bogen zu gesellschaftlichen und politischen Themen zu schlagen. Fast niemand schreibt so intim wie Didion, und doch hat man das Gefühl, sie kaum zu kennen. Was eben auch daran liegt, dass die Amerikanerin zwar eine Meisterin der schonungslosen Selbstanalyse ist – aber nur in ihren Essays, Büchern, Texten. Interviews, in denen sie ihr Schaffen, ihr Leben kommentiert, gibt Joan Didion nicht gerne.

[typedjs] „We tell ourselves stories in order to live.“[/typedjs]

Coca Cola, eisgekühlt

Für die Netflix-Dokumentation Joan Didion. Die Mitte wird nicht halten hat die 82-Jährige eine Ausnahme gemacht. Das dürfte vor allem daran liegen, dass ihr Neffe Griffin Dunne Regie sowie die Gespräche mit ihr führte. Herausgekommen ist dabei ein Film, der technisch und erzählerisch ziemlich klassisch geraten ist – chronologisch wird die Geschichte von Didions Leben erzählt, dazwischen gibt es Archivaufnahmen und Gespräche mit Weggefährt*innen. Aber mehr braucht es auch nicht, denn der Film hat schließlich Joan Didion. Die gibt mit ihrer dunklen Stimme und auf ihre trockene Art einen zitierfähigen Spruch nach dem anderen zum Besten: „I don’t know what falling in love means – it’s not part of my world.“ Didion, so der Eindruck, sagt immer genau das, was gesagt werden muss. Nicht mehr, nicht weniger. Kurz und knapp. Sie ist keine Vielsprecherin, sie spricht präzise.

 

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Von Joan Didion gibt es jede Menge ikonografische Bilder, vor allem von der jungen Joan Didion: rauchend, an ein Auto gelehnt, mit Sonnenbrille. Die Bilder sind Teil von Didions Image, welches sie selbst sorgfältig aufgebaut hat und kultiviert. Die Schriftstellerin Susanna Moore, die in den 1970ern einige Zeit bei Didion, deren Mann John und der Adoptivtochter Quintana in Los Angeles lebte, erinnert sich daran, dass Didion morgens mit Sonnenbrille in die Küche kam und dort eine eiskalte Coca Cola aus dem Kühlschrank trank. Die Sonnenbrille gehört so sehr zu Didion, dass das Modelabel Céline sie damit 2015 zu seinem neuen Gesicht machte. Eine 80-Jährige Intellektuelle als Fashion-Model – das sorgte für Aufregung. Auch das ist eine Besonderheit Didions: Ihre gefühlte Zeitlosigkeit, oder vielmehr, ihre andauernde Relevanz. Und das, obwohl viele ihrer Texte zeitbezogen sind und spezifischen geschichtliche Ereignisse beschreiben.

Zwischen American Dream und gescheiterten Utopien

Ihre berufliche Karriere begann die junge Joan Didion Ende der 1960er bei der Vogue in New York. Weil sie sich nach ihrer Heimat Kalifornien sehnte, veröffentlichte 1963 sie einen dort angesiedelten Roman Run, River, und zog nach ihrer Heirat mit dem Journalisten John Gregory Dunne dorthin zurück. Didion begann, verschiedene Reportagen und Texte für Magazine zu schreiben (Lesetipp: der 1961er Essay On self-respect). 1968 erschien Slouching towards Bethlehem, eine Sammlung von Essays und Reportagen, in denen Didion über ihre Erlebnisse in Kalifornien schrieb – über die Gegenkulturen, über LSD, über den American Dream, über gescheiterte Utopien.

Didion verwob journalistisches Vorgehen mit persönlichen Gedanken und Einschätzungen und wurde so zur Mitbegründerin des sogenannten New Journalism, der statt auf Objektivität auf eine subjektive Perspektive setzt und sich literarischer Stilmittel bedient. In den folgenden Jahrzehnten veröffentlichte Didion Romane, Essays, Reportagen und schrieb weiter für Magazine und Zeitungen. Viele ihrer Sätze sind zu Bonmots geworden: „We tell ourselves stories in order to live“, beispielsweise.

Doch Joan Didion war und ist sehr viel mehr als eine nur stylische Frau mit Sonnenbrille, die extrem einprägsame Sätze schreibt. Schon als junge Frau verfügte Didion über eine Lebensweisheit, die andere auch mit 80 oder 90 nicht erreichen. Stets hat sie Fragen gestellt, oftmals unbequeme, über sich selbst, über die Welt, die sie umgibt. Und sie hat einen einzigartigen Weg gefunden, diese Fragen zu beantworten – wenn sie sie denn überhaupt beantworten will.

Schreiben als Trauerbewältigung

Joan Didion kann deshalb so gut über so viele Dinge schreiben, weil sie das Leben kennt, mit all seinen Höhen und Tiefen. Weil sie nie wegschaut, wenn es schwierig wird, sondern, ganz im Gegenteil, mit zur Chronistin der sich vor ihr abspielenden Tragödien wird. So wie die zwei Tragödien, die Joan Didion in kurzer Zeit erlebte: Während Didions Tochter Quintana am 30. Dezember 2003 schwerkrank und komatös im Krankenhaus lag, erlitt Didions Mann John beim Abendessen einen tödlichen Herzinfarkt. Didion schob die Beerdigung so lange auf, bis Quintana wieder gesund war und teilnehmen konnte. Als Quintana nach der Beerdigung nach Los Angeles kam, stürzte sie auf dem Flughafen und verletzte sich schwer am Kopf – Hämatom. Sie wurde sechs Stunden lang operiert und schien sich 2004 gut zu erholen, doch 2005 starb sie an den Folgen einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung. Über den Verlust ihres Mannes schrieb Didion das Buch Das Jahr des magischen Denkens – es war noch nicht veröffentlicht, als Quintana starb. Behutsam thematisiert die Dokumentation diese Phase in Didions Leben und zeigt, wie diese Frau, die die wichtigsten Menschen in ihrem Leben kurz nacheinander verloren hat, mit ihrer Trauer umgeht. Die Trauer, das wird deutlich, begleitet Didion täglich. Sie ist ihr auf die einzige Weise begegnet, die sie kennt: mit Schreiben. 2011 erschien Blaue Stunden, in dem es ums Älterwerden geht, aber auch um Quintanas Tod. Didion selbst sagt in der Dokumentation:

[typedjs] „The reason why I had to write it down was because nobody ever told me what it was like. It was a coping mechanism, but I didn’t plan it that way.”[/typedjs]

Joan Didion. Die Mitte wird nicht halten gibt einen kleinen Einblick in das Leben der Joan Didion. Die Dokumentation ist liebevoll gemacht: Griffin Dunne wirft einen zärtlichen Blick auf seine Tante, ist aber auch schlau genug, das von Didion selbst so sorgfältig kultivierte Image der leicht exzentrischen Intellektuellen durch die Kommentare von Freund*innen und Bekannten zu brechen. Was bleibt ist das Bild einer Frau, die wie keine Zweite untersucht, welche Geschichten wir uns über uns selbst erzählen und die aus ihrem Leben Geschichten gemacht hat – ein oft schmerzhafter Prozess. Das Bild einer Frau, die schreibt, um sich die Welt anzueignen und die beim Schreiben erst herausfindet, was sie eigentlich denkt und fühlt. Das Bild einer Frau, deren Texte auch in zwanzig Jahren noch aktuell sein werden – nicht nur, aber vor allem, weil so viel von Didion in ihnen steckt.

3 Kommentare

  1. Annika Johanna

    Wieso schreibt ihr: wer WAR Joan Didion? Sie lebt doch noch… zum Glück! 😉 Tolle Doku, aber ihre Bücher sind noch toller! Sollte man alle im Original lesen…

    Antworten
    1. Sarah

      Frage ich mich auch!!! Und stimme zu: im Originsl!! “The Year of Magical Thinking” – 6 mal gelesen bisher. Eines der besten Bücher EVER!!!

      Antworten

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