Im Interview mit transgender YouTouberin Jolina Mennen:
„Meine Schönheit ist meine Entscheidung“

04.12.2017 Gesellschaft, Menschen

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„Wahre Schönheit kommt von Innen“ ist ein Lebensmotto, das wir uns alle immer wieder aufsagen. Und im Grunde genommen ist es doch so, oder mag mir jemand an dieser Stelle widersprechen? Wie sieht es nun aber wirklich aus in diesem fortschrittlichen Jahr 2017? Eigentlich müssten wir doch annehmen können, dass eine Gesellschaft, die schon so viele Jahre auf dem Buckel hat, die weltoffenste Gemeinschaft des Planeten wäre. Dass jeder Mensch die Freiheit genießen dürfte, für die er sich entschieden hat. Ein Leben zu leben, dass voller Toleranz und Glück und Liebe ist. Dass wir akzeptiert werden, so wie wir sind, auch wenn wir eben nicht der Norm entsprechen. Nun Hand aufs Herz: Wir könnten von der Realität in so vielen Punkten kaum weiter entfernt sein. Sogar hierzulande, in einem doch scheinbar so aufgeklärten, weltoffenen Land. Dabei hängt es doch von jedem einzelnen da draußen ab, von dir und mir, von uns und euch. Vielleicht klingt es pathetisch, aber wir alle könnten die Welt heute schon verändern. Vielleicht nur Stück für Stück, aber jeden Tag eben ein bisschen offener und liebevoller. Indem wir anderen Menschen mit weniger Vorurteilen und mehr Herz begegnen, und sie so akzeptieren, wie sie sind. Wie steinig der eigene Weg zu sich selbst nämlich sein kann, wenn man vermeintlich nicht so ist wie alle anderen tickt und dem Durchschnitt entspricht, darüber haben wir mit der Transgender-Frau Jolina Mennen gesprochen.

Als Teil der aktuellen Dove Kampagne, die sich seit Jahren für das Versprechen für wahre und echte Schönheit stark macht, durften wir nun Jolinas Geschichte hören, mit ihr über ihren Weg sprechen und die Essenz von wahrer Schönheit durch ihre Worte verstehen. Ein sehr berührendes Interview, das uns teils sprachlos, teils wütend zurückließ und von dem wir gelernt haben, dass wir nicht länger nur unseren Mund gegen etwas öffnen sollten, sondern viel öfter für etwas: Nämlich für ein Leben voller Freiheit und Miteinander.

Dove Versprechen für wahre Schönheit

1) Dove zeigt immer echte Frauen, keine Models. 
2) Dove präsentiert Frauen so, wie im echten Leben – ohne Retusche und Bildbearbeitung 
3) Dove unterstützt Mädchen beim Aufbau eines positiven Körpergefühls und der Stärkung ihres Selbstwertgefühls.
Sich selbst zu verleugnen und in eine Form zu pressen, nur um anderen Menschen zu gefallen? Das ist nicht länger das, wofür Jolina einsteht. Die heute 25jährige YouTuberin hat 2008 angefangen, Videos von sich ins Netz zu stellen. Anfangs noch als Hobby und völlig unbedarft, hat sich daraus 2013, neben ihrem BWL Studium, ein Fulltime Job entwickelt. Vorrangig behandelt die Transgender-Frau Beauty-Themen, versucht aber, das eher oberflächliche Format in regelmäßigen Abständen mit einer guten Portion Augenzwinkern und Sarkasmus aufzurütteln, um ihre Follower abzuholen und nicht gleich komplett zu verschrecken. Sie widmet sich auf ihrem Kanal also nicht nur der Schönheit, die völlig frei definiert werden darf, sondern auch einer tieferen Message, um für Umdenken zu sorgen.

Denn der Moment, in dem sie sich als Transgender geoutet hat, war für sie ein enormer Befreiungsschlag: Endlich frei, aufrichtig und ehrlich zu sich selbst zu sein! Endlich von anderen Menschen so wahrgenommen zu werden, wie sie wirklich ist. Was für andere Menschen völlig normal scheint, ist in Jolinas Leben alles andere als das. Darum geht sie immer ihren eigenen Weg, egal, was andere dazu sagen.

Und genau dafür steht sie eben in ihren YouTube-Videos ein: Jeder Mensch soll so sein, wie er sein möchte. Für Jolina gibt es nichts wichtigeres, als sich selbst gegenüber fair zu sein und sich weder zu verleugnen noch zu verstecken. 

[typedjs]Ich möchte als Person dafür stehen, dass zu machen, was das Herz mir sagt und versuche, mich nicht einschränken zu lassen. Gerade dann, wenn andere einem sagen: „Das schaffst du nicht“. Außerdem versuche ich natürlich für meine Follower, Grenzen zu übertreten, mutig vorauszugehen und einen Weg aufzuzeigen, der vielleicht steinig ist, aber der sich garantiert lohnt. Die bestärkende Freundin, sozusagen. Ich nehme halt einfach kein Blatt vor den Mund, auch wenn es anderen peinlich wäre. Ich hatte zum Beispiel eine schwere Operation vor kurzer Zeit und habe den kompletten Weg skizziert: Aus dem Aufwachraum, blutverschmiert, manchmal total unschön, aber dafür 100 Prozent real. Ich will nahbar sein, kein Idol, aber vielleicht die beste Freundin oder die Schwester.[/typedjs]

JW: Ok, whaow, du zeigst also wahnsinnig viel Privates. Aber: Wie wichtig ist dir noch Privatsphäre? Oder hast du bereits einen Teil deiner Privatsphäre aufgegeben, um ein Zeichen zu setzen?

Jolina: Ich möchte mich durch mein Format nicht selbst darstellen, aber ich denke, dass ich durch diese Form der Selbstdarstellung Menschen etwas mitgeben kann. Und das ist natürlich eine Chance und eine Gefahr zugleich. Es geht um die Message und für die muss ich mich natürlich manchmal entblößen.

JW: Du hast eben gesagt, man soll immer das tun, was das Herz einem sagt. Kannst du dich denn noch an das letzte einschneidende Erlebnis erinnern, als du wirklich auf dein Herz gehört hast, während alle anderen um dich herum etwas anderes erwartet haben?

Jolina: Ich glaube, der letzte, sehr gravierende Punkt war, als ich mich für meine große Operation entschieden habe, weil mein biologisch-männliches gewachsenes Gesicht rekonstruiert wurde und die Auswirkungen des Testosterons zurückgeschraubt wurden. Alle um mich herum haben immer wieder gesagt: „Du brauchst das nicht. Du bist hübsch genug!“ Ich konnte ihnen entgegnen, dass ich das nicht mache, um hübsch auszusehen, sondern, um in den Spiegel zu schauen und die Frau zu sehen, die ich in mir drin bin. Und da kam unwahrscheinlich viel Gegenwind von allen Seiten. Aber mein Mann und ich haben viel darüber diskutiert – sie kam nicht von heute auf morgen. Ich musste diese Entscheidung treffen. Ich habe diese Sache ewig vor mir hergeschoben, aufgrund von Ängsten und fehlendem Mut.

„Lieb’ dich so wie du bist“ ruft uns eine ganze „Body Positivity“-Bewegung entgegen, aber fühlst du dich davon auch manchmal gehemmt? Denn zwar versuchst du eine Botschaft zu vermitteln, die voll und ganz auf Selbstliebe abzielt, und hast die Verantwortung, immer wieder zu betonen „Lieb’ dich so wie du bist“, aber immerhin hast du dich ja dafür entschieden, deine Operation endlich machen zu können. Also hätten wahrscheinlich viele erwartet, dass du eigentlich sagst: „Ich bin, wer ich bin und liebe mich auch so.“ Wir sprechen also oft von Body Neutralism: Muss man sich also immer komplett schön finden oder darf man sehr wohl auch mal etwas verändern?

Jolina: Man darf auf jeden Fall Dinge in Frage stellen und Veränderungen einläuten, die einem eben auch gut tun. Ich zelebriere meinen Körper so wie er ist, aber es gibt auch eben Probleme, die mich im Alltag einschränken. Ungesunde Lebensweisen oder andere Probleme, die mich seelisch schwer belasten. Ich finde, man kann „Probleme“ mit sich selbst nicht in einen Topf werfen – da gibt es Unterschiede. Vielleicht ist es eine Frage des „zu“: Zu viel oder zu wenig. Vielleicht muss man an dieser Stelle den gesunden Mittelweg ansteuern.

Du wolltest in deinem Gesicht also etwas verändern, weil das Testosteron die feinen Züge in deinem Gesicht verändert haben. Aber vor allem wolltest du vielleicht auch, dass andere dich endlich so sehen, wie du dich fühlst. Weil es eben ganz viele Menschen da draußen gibt, die nicht so offen sind, so tolerant, wie wir in unserer Blase. Ist es nicht fürchterlich anstrengend, immer wieder zu betonen, dass man eine Frau ist?

Jolina: Total. Der Geschlechterstempel ist total schwierig: Warum fühlt man sich als Mann beispielsweise Fehl am Platz in der Damenabteilung? Das ist doch total bescheuert. Nun muss ich aber so ehrlich sein und sagen, dass ich mich gerade in einem Prozess befinde, also in dieser Transition, und selbst auch ein Stück auf diesen Stempel poche. Es ist natürlich eine sehr individuelle Situation. Vielleicht ist es mir irgendwann auch vollkommen egal, zumindest wird es mir schon jetzt zunehmen gleichgültiger. Früher wäre ich beispielsweise niemals ungeschminkt vor die Tür gegangen. Heute sehe ich das viel entspannter und gehe auch ungeschminkt raus.

Wir stoßen da auch oft an unsere geistigen Grenzen, denn natürlich streben wir als Feministinnen danach, dass keine Unterschiede mehr gemacht werden. Aber natürlich lieben auch wir es, weiblich zu sein. Ist es also dein Ziel, dich irgendwann einfach als Mensch zu begreifen oder glaubst du, dir ist es vor allem wichtig, als Frau wahrgenommen zu werden?

Jolina: Ich bin sehr stolz darauf, eine Frau zu sein. Auch, weil es natürlich ein harter Weg war. Also auf der einen Seite macht es mich unendlich stolz zu sagen “Ich bin eine Frau“. Auf der anderen Seite ist es natürlich ein anderer Punkt, einfach Mensch zu sein, ohne, dass voreilige Schlüsse gezogen werden. Das muss natürlich nicht sein. Trotzdem gibt es nichts verwerfliches daran, weiblich sein zu wollen und darauf auch zu bestehen.

Für Dove hast du bereits deine Geschichte erzählen. Aber sag’ mal: Fühlst du dich denn gerade wohl in deiner Haut?

Jolina: Schon. Es ist OK. Es ist natürlich ein Prozess. Nicht, weil ich mich als Mensch nicht schön finde, sondern weil einfach noch ein bisschen fehlt, damit mein Äußeres eben besser meinem Inneren gleicht.

Also ist es gerade OK, sich OK zu finden? Oder sollte deine Prämisse sein, dich immer rattenscharf zu finden?

Jolina: Es ist OK, sich mal OK zu finden. Aber nein: Wie anstrengend wäre es, wenn man sich permanent rattenscharf findet? Man muss auch mal durchatmen können, wenn man auf einer Skala von 10 nur eine 5 ist. Es ist einfach unrealistisch, dass man sich jeden Tag wunderwunderschön findet. Da macht unser Gemüt auch einfach nicht mit. Vielleicht kann man sich manchmal auch nur rattenscharf finden, weil man sich eben an anderen Tagen nicht so wow fühlt.

Stichwort Selbstliebe: Ist es nicht viel stärker, sich zu lieben, auch wenn man sich nicht immer schön findet. Ist es nicht viel wichtiger, seine Makel zu lieben, sie vielleicht auch manchmal hässlich zu finden, aber trotzdem dazu zu stehen. Manchmal will man sich eben auch nicht schön finden. Oder?

Jolina: Ich finde, es sollte eben einfach auch unterschiedliche Herangehensweisen geben und nicht nur das Prädikat „schön“ oder „hässlich“ in unseren Köpfen auftauchen. Füße zum Beispiel müssen nicht immer schön sein, aber wenn du überhaupt welche hast, ist das doch schon mal großartig, oder? Vielleicht entsprechen sie nicht dem Schönheitsideal, aber manchmal ist es eben auch genug, einfach OK zu sein.

Du meinst also, schon allein durch Akzeptanz habe ich zumindest schon mal die Chance, meine Makel lieben zu lernen – und sie dadurch vielleicht sogar schön zu finden?

Jolina: Genau, aber an dieser Stelle braucht es natürlich Vorbilder und umso mehr freue ich mich da natürlich, Teil einer Kampagne zu sein, die sich nicht für die Gisele Bündchens dieser Welt entschieden hat, sondern für Menschen wie Jolina, die vielleicht nicht das vermeintliche Ideal aufzeigen, dafür aber ein realistisches Bild.

Fühlst du dich denn selbst von den Medien unter Druck gesetzt?

Jolina: Ich werfe natürlich ein Auge drauf, aber ich richte mich nicht mehr danach. Das wäre ein 24h Job.

Du scheinst da ja echt in dir zu ruhen. Aber wie schafft man das, sich von diesem Vergleichsmechanismus zu lösen?

Jolina: Vielleicht, indem man sich einfach mehrere Vorbilder sucht und irgendwann realisiert, dass auch von diesen Vorbildern, jede*r seine oder ihre Makel hat und dass ich, selbst wenn ich mir alle Kirschen rauspicke, dieses Ideal zusammengenommen ja gar nicht erreichen kann. Und dann habe ich mir gedacht: Wenn ich das eh nicht schaffe, mache ich einfach mein eigenes Ding. Mir ist irgendwann aufgefallen, wie unrealistisch das ist und habe aufgehört, mich auf andere zu konzentrieren. Nichtsdestotrotz möchte ich gesünder leben, ohne direkt ein Vorbild vor Augen zu haben, sondern einfach, weil ich merke, dass ich da jetzt was unternehmen sollte.

Wir hatten aus der DOVE Studie entnommen, dass viele Mädchen gehemmt sind, Dinge zu tun, weil sie denken, sie könnten es nicht – obwohl sie sich dafür interessiert haben. Hört sich das für dich bekannt an?

Jolina: Ich wollte im Sommer immer einen Bikini anziehen. Aber zu Beginn meiner Umwandlung habe ich für mich festgestellt, dass das nicht funktioniert, denn selbst wenn ich mich morgens komplett rasiert habe, hatte ich wenige Stunden später wahnsinnigen Rasurbrand. Also habe ich mich durch Laser-Therapie und durch die Hormone praktisch davon befreit. Bloß habe ich gerade durch letztere Einnahme unheimlich zugenommen – und siehe da, ein neues Problem war gefunden. Ich sah also nicht mehr Schlank aus – und wollte erneut zum Badeanzug greifen. Irgendwann habe ich einfach nur noch mit dem Kopf geschüttelt und mir einen Bikini bestellt. Man findet doch immer was, wenn man es sucht.

Und die Frage ist einfach: Wovor haben wir denn eigentlich auch Angst? Wenn wir uns selbst so behandeln würden, wie wir im besten Fall unsere Freund*innen behandeln, dann müsste man sich eigentlich wünschen, sich selbst manchmal so zu sehen: Denn genau die lieben wir mit all ihren Makeln. Also nochmal: Wovor haben wir Angst?

Jolina: Vor Zurückweisung und davor, dass jemand die Makel ausspricht, die man im Kopf hat. Dass man in seinen Ängsten und Unsicherheiten auch noch bestärkt wird. Die Sache ist aber die: Als ich mich endlich in meinen Bikini getraut habe, hat niemand auch nur geguckt, weder was gesagt.

Ja, und das ist auch so! Unser Kopf formt Reaktionen, die meist gar nicht eintrerten. Dabei müssten man zum Beispiel auch bei vermeintlich peinlichen Momenten einfach ein bisschen mehr über sich selbst lachen, statt nach dem Stolpler beschämt und furchtbar streng zu sich zu sein und davon zu schleichen. Es kommt so sehr darauf an, wie wir uns fühlen und was wir dadurch nach Außen tragen. Wäre es also nicht viel angenehmer, bei sich selbst anzufangen und nett zu sich selbst zu sein? Wir können die Gesellschaft also offensichtlich nur sehr langsam ändern, aber uns vielleicht von jetzt auf gleich. Schritt für Schritt, damit es uns schon morgen besser geht!

Jolina: Es ist natürlich auch ein Erfahrungsprozess, aber bestärkende Freund*innen und eine unterstützende Familie können unfassbar hilfreich sein. Meine Mama war zum Beispiel wahnsinnig toll und hat sich riesig über meinen Mut gefreut, weil sie schon die ganze Zeit wusste, dass ich eigentlich eine Frau bin. Andere haben sich dagegen aber komplett abgewandt. Mein Mann Florian ist wiederum den ganzen Weg mit mir gegangen. Es ist wichtig, solche Menschen um sich zu haben. Sehr wichtig sogar. Und Humor ist wichtig. Über sich selbst zu lachen zum Beispiel, sonst wird man wahrscheinlich wahnsinnig.

Wann hast du eigentlich zum ersten Mal gemerkt: Moment mal, hier stimmt irgendwas nicht mit mir, mit der Bezeichnung Junge/Mann, den Erwartungen der anderen und dem eigenen Gefühl?

Jolina: Wahnsinnig früh. Ich war ungefähr 3 oder 4, habe mich dazu aber nie wirklich geäußert. Ich habe einfach das gemacht, worauf ich Lust hatte, habe mir einen Turban um den Kopf gewickelt und bin in den Schuhen meiner Mama durch das Haus gelaufen, habe ihren Schminkkasten geplündert und war glücklich. Ich habe ihr komplett nachgeeifert. Irgendwann wurde aus Spiel und Spaß aber ernst. Und schwierig wurde es in der Schule: Als mir eingetrichtert wurde, ich sei ein Junge und dies und das mache man nicht. Als Kind stellst du deine Meinung unter die der Erwachsenen, weil du denkst, du wärst im Unrecht. Erst mit 16 kam das Umdenken, als ich für mich feststellte, das kann so nicht weiter gehen.

Es ist ein wahnsinnig langer Prozess und erst mit 22 habe ich mit Behördengängen und Psychiatersuche begonnen. Man muss rund 7 Monate warten, um einen Psychiater zu finden und um einen Termin zu bekommen. Rund ein Jahr lang wird danach die Willensstärke durch einen Alltagstest getestet: Als Frau leben – ohne Medikamente oder Hormone. Wenn man 12 ist, ist das vielleicht OK, aber wenn man unter dem Einfluss von Testostern leben muss, ist es wirklich hart.

Hast du denn das Gefühl, es wurde dir bisher leicht gemacht oder liegen da nur Stolpersteine?

Jolina: Es war hart bisher, aber das ist es immer noch: Ich habe zum Beispiel seit 1,5 Jahren mit dem Amtsgericht Bremen zu kämpfen, weil sie mir meinen Personalausweis nicht ausstellen wollen. Ich habe alle psychiatrischen Gutachten hinter mich gebracht, habe alles selbst bezahlt und vorgelegt, aber man antwortet mir nicht, die Sachbearbeiterin verleugnet sich sogar. Es steht also noch mein alter Name auf dem Perso. Das hört sich nicht weiter schlimm an, aber selbst wenn man ein Paket bei der Post abholen möchte oder mit der Kreditkarte bezahlen will und zur Identifikation seinen Ausweis vorlegen muss, kommt man einfach nicht weiter.

Hast du denn grundsätzlich das Gefühl, in unserer Gesellschaft gut aufgehoben zu sein? Gerade in einer kleineren Stadt wie Bremen? Und hast du das Gefühl, es hat sich in den vergangenen Jahren schon was geändert.

Jolina: Die Toleranz ist immer noch extrem niedrig. In Berlin ist das was anderes, aber in Bremen natürlich nicht. Ich habe allerdings mittlerweile das „Glück“, dass ich nicht mehr so männlich aussehe. Ich wurde bespuckt, mit Essen beworfen und beschimpft. Das komplette Paket also.

Was können wir denn aktiv tun, damit sich die Lage ändert? Manchmal haben wir einfach das Gefühl, irgendwie nur unseren Minikosmos zu erreichen.

Jolina: Wir müssen alle unsere Augen öffnen, denn all die Negativität den Menschen gegenüber, die nicht der Norm entsprechen, kommt meist aus Unsicherheit. „Komisch, der ist doch als Mann geboren. Verstehe ich nicht. War doch früher auch nicht so.“ Aber wenn man sich vielleicht mal mehr damit beschäftigt und sich selbst fragt, wie würde es mir gehen, wenn ich in dieser Haut stecken würde, könnte das zu Umdenken führen. Stichwort „Empathie“.

[typedjs]„Sie sagen … ich kann keine Frau sein. Ich sage … schaut mich an, ich bin eine Frau!“[/typedjs]

Außerdem glaube ich, dass es Positivbeispiele braucht und genau darum stehe ich vor der Kamera. Weil ich früher selbst dachte, dass ich irgendwann als Freak auf der Straße leben würde und mir erst Videos aus dem Ausland wahnsinnig geholfen haben, um wirklich zu sehen, dass man trotzdem Mensch ist. Ich bin also davon überzeugt, dass Positivbeispiele für Umdenken sorgen können. Aber die braucht es eben mehr in der Öffentlichkeit, in der Politik, im Sport oder in der Musik. Beispiele, die den Menschen zeigen: Schau, das bin ich! Bloß ist das natürlich ein weiteres, großes Problem: Denn Menschen in diesen öffentlichen Positionen haben unheimlich Angst vor Zurückweisung, davor, alles zu verlieren.

Ja, unbedingt! Wir gehen ja auch eher gegen etwas auf die Straße, als für etwas und sind somit meist zu reaktionär. Wahrscheinlich hast du Recht, vielmehr Menschen müssten aufstehen und Positives kundtun!

Jolina: Wahrscheinlich haben viele den Gedanken, dass wir schon an einem „selbstverständlichen“ Punkt sind und haben das Gefühl, man müsste dafür nicht mehr einstehen, um benachteiligte Menschen zu supporten. Und das ist gefährlich, weil es für Rückschritt sorgt – in ganz vielen Bereichen.

Und es ist paradox, denn auch Feminist*innen untereinander bekriegen sich: Die einen wären zu lasch mit ihren Aussagen und würden sich nur die Rosinen rauspicken wollen, während die anderen zu hart unterwegs sind. Auch Trans-Menschen sind sich uneinig, denn die einen sind schwierig und die anderen gehen auch gar nicht. In der homosexuellen Gruppe ist es aber auch nicht anders: Da gibt’s wieder die einen, die sich noch männlich verhalten, aber die, die sich die Haare bleachen, Skinny Jeans tragen und femininer daher kommen, gehen wieder gar nicht. Aber wie sollen wir denn irgendwann einfach glücklich und zufrieden nebeneinander leben, wenn sogar Menschen, die einen anderen Weg gehen und einem theoretisch näher sein müssten, auch pausenlos nur verurteilen?

Das ist es: Wir müssen lernen, die Vielfalt zu akzeptieren und müssen dafür einstehen. Immer und überall. Aber sag’ mal: Was sind denn deine persönlichen Ziele für die Zukunft. Wohin soll der Weg als nächstes gehen?

Jolina: Also als nächstes steht sicherlich meine Geschlechtsangleichung an und ich hoffe natürlich, dass sich mein Personalausweis in den nächsten Tagen mal auf den Weg macht. Ansonsten: Vielleicht irgendwann sogar mal Kinder! Ich denke, im Laufe der Zeit werde ich mich weiterhin ständig hinterfragen, schauen, wo ich stehe und zurückblicken und reflektieren. Mich fragen, was gut und was weniger großartig war. Ich finde es wichtig, sich in verschiedenen Situationen und Abschnitten umzuschauen, um nicht länger Dinge aufzuschieben, die mich lähmen. Denn warten macht mich noch verrückter. Wenn ihr also merkt, dass irgendwas bei euch nicht stimmt, dann fangt an, im Familien- oder Freundeskreis darüber zu sprechen, um Dinge einfach auch klarer für euch selbst zu machen. So nehmt ihr eure Mitmenschen an euren Gedanken direkt mit, lasst sie teilhaben und pustet sie nicht von eurem ehrlichen Wind komplett um, wenn ihr Entscheidungen trefft. Das ist meine Botschaft.

Denn das Umfeld kann uns natürlich wahnsinnig helfen, indem es uns überhaupt den Raum gibt, über Dinge zu sprechen. Und damit kann schon im Kindesalter angefangen werden: Wenn das Zuhause eine Comfort Zone darstellt, die durch nichts erschüttert werden kann, ein Ort der Offenheit und Liebe sozusagen, dann bedeutet das wahrscheinlich schon die Welt. Das Kind als Mensch fördern, statt in eine Geschlechterrolle zu pressen, dabei offen zu sein und es nicht immer in Erklärungsnot zu bringen. Empfindungen kann man nicht immer begründen, aber wir können trotzdem da sein und bei Bedarf zuhören, erklären und den Weg gemeinsam gehen. Man muss auch nicht alles wissen, man sollte nur so versiert sein, sich im Fall der Fälle vielleicht eine helfende Hand und Stimme zu holen.

Tausend Dank für dieses wunderbare Gespräch, liebe Jolina.

– Dank freundlicher Zusammenarbeit mit Dove –

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