Nike hat diese Woche schon ein paar wunderbare aktuelle Bücher (Sally Rooney!) vorgestellt – was gibt es im grauen Januar auch besseres, als es sich mit Tee und Lektüre gemütlich zu machen? Einer meiner Neujahrsvorsätze lautet, wie schon im letzten Jahr: Mehr Romane lesen! Denn ich lese zwar eine Menge, vieles davon aber jobbedingt und vieles davon Sachbücher. Hinzu kommt, dass ich gerne Romane zur Hand nehme, die ich bereits kenne – meistens, weil sie mir ein bestimmtes Gefühl vermitteln, mich an etwas erinnern oder meine Kreativität in Schwung bringen. Hinzu kommt, dass Romane, viel mehr als Sachbücher (finde ich zumindest) das Potential haben, zu enttäuschen.
Ich will also mehr Romane lesen, und bisher klappt dieser Vorsatz ganz gut. Er klappt sogar besser als gedacht, einfach weil Lesen immer noch mein liebstes Hobby ist und es Phasen gibt, in denen ich ein Buch jeder menschlichen Gesellschaft vorziehe. Letzte Woche lud ich spontan ein Buch auf meinen treuen Kindle-Reader, erstens, weil es günstig war, zweitens, weil es enthusiastisch angepriesen wurde. Ich erwartete nicht viel, doch eine lange Zugfahrt (und mehrere enthusiastische Nachrichten an meine Schwester) später kann ich sagen:
Seit langem habe ich nicht mehr ein so unterhaltsames, gut geschriebenes, fesselndes und tragisch-komisches Buch gelesen. Es heißt The Improbability of Love (auf Deutsch ist es 2016 als Die Launenhaftigkeit der Liebe veröffentlicht worden) und ich möchte am liebsten Wände mit der Aufforderung „LEST DIESES BUCH!!!“ plakatieren. Unfassbar, dass ich dieses Werk erst jetzt entdeckt habe, obwohl es schon 2015 erschienen ist!
Vom Suchen und Finden eines Gemäldes
Der Plot lässt sich gar nicht mal so schnell zusammenfassen, dafür tauchen einfach zu viele Menschen und Handlungsstränge auf. Aber hier ein Versuch: In Hannah Rothschilds (ja, von den Rothschilds) Roman geht es um ein verschollenes Gemälde namens The Improbability of Love. Annie, 31, Single und zutiefst unglücklich und einsam, findet das Gemälde durch Zufall in einem Londoner Ramschladen. Ihr Fund setzt eine Reihe von Handlungen in Gang, die einzeln zu erklären den Spaß an der Lektüre zerstören würde. Nur so viel: Als Leser*in taucht man tief ein in die Londoner Kunstszene, wo sich ein Panoptikum an faszinierenden Gestalten mit herrlich-absurden Namen wie Septimus Ward-Thomas, Memling Winkleman, Earl Beachendon oder Melanie Appledore tummelt. Alle haben unterschiedliche Interessen an dem Gemälde, welches sich im Besitz der ahnungslosen Köchin Annie befindet. Die Absurdität der Kunstszene wird in Dialogen wie diesem deutlich, in dem der Leiter der National Gallery, Septimus Ward-Thomas, einen beflissenen Mitarbeiter des britischen Kulturministeriums davon überzeugen muss, die Subventionen für das Museum nicht zu kürzen – und zwar, indem er beweist, wie sehr das Museum sich (angeblich) um gesellschaftliche Randgruppen bemüht:
“We have an interesting programme for unmarried mothers,“ Ward-Thomas said, feeling slightly ashamed, as he had tried, on many occasions, to block this idea of Sen’s. “We bring them in and show them lots of Madonna and Child paintings; it helps to remove the stigma.”
“How do they react?”
“Fine, as long as they get free tea and biscuits at the end.”
Außerdem, lügt Ward-Thomas, gäbe es ein weiteres Programm für „young offenders”: Diesen zeige man einige der härteren, blutigen Werke, zum Beispiel von Caravaggio oder Rubens – dadurch würden sie sich weniger stigmatisiert fühlen. Die Charaktere sind allesamt mehr oder weniger skurril, aber immer liebenswert und präzise gezeichnet. So erfährt man über Memling Winkleman und seinen Hund folgendes:
“Tiziano rarely left his side. This dog, now five years old, was the cloned son of Raphaello and had been hand-delivered by Memling in a clinic in South Korea. Raphaello was the great-great-grandson of Leonardo, Memling’s first white dog.”
Fact und fiction, geschickt miteinander verwoben
Der besondere Clue an The Improbability of Love ist zum einen der allwissende Erzähler (oder, in diesem Fall wohl eher die allwissende Erzählerin): Ich habe in letzter Zeit so viele Bücher gelesen, die aus der Ich-Perspektive geschrieben waren, dass ich schlicht vergessen hatte, wie viel Spaß es macht, als Leser*in die Handlung aus verschiedenen Perspektiven zu verfolgen und immer ein bisschen mehr zu wissen als die Handelnden selbst. Teile des Buches sind sogar aus Sicht des Gemäldes geschrieben und dabei wirklich schreiend komisch: Das Gemälde spricht von sich selbst als moi und sehnt sich nach der Gesellschaft weiterer Meisterwerke – ein ziemlich eingebildetes, von seinem eigenen Wert zutiefst überzeugtes Ding. Das zweite Element, was den Roman so lesenswert und genial macht, ist das geschickte Verweben von fact und fiction. Denn das Gemälde The Improbability of Love ist zwar fiktiv, sein Maler, der Franzose Antoine Watteau, aber nicht: Er lebte im 18. Jahrhundert, malte vor allem höfische Szenen, schuf mit den sogenannten fêtes galantes eine neue Bildgattung und war im wahren Leben ein eher einsamer und unglücklicher Mann. Es macht unendlich viel Vergnügen, nachzurecherchieren, wer dieser Antoine Watteau war, wie seine Bilder aussahen und was seinen Stil ausmachte.
Letztendlich geht es in The Improbability of Love um, klar, Liebe. Es geht aber auch um die Liebe zur Kunst, um Nationalsozialismus, um Sehnsucht, um Familie. Und obwohl Köchin Annie eindeutig das emotionale Zentrum des Buchs bildet, schafft Hannah Rothschild es, jede einzelne ihrer zahlreichen Figuren lebendig werden zu lassen (sogar ein Gemälde!) und nebenbei noch Insider-Wissen über Kunst zu vermitteln. Mich zumindest packte während der Lektüre das dringende Bedürfnis, sofort ins nächste Museum zu stürzen und dort intensiv die verschiedensten Gemälde zu studieren. Oder mich wie Annie in die Küche zu stellen und ein von einem Gemälde inspiriertes Menü zu kochen – um Essen und Genuss geht es im Buch nämlich auch.
Bevor ich endlos weiterschreibe und vielleicht doch noch zu viel über den Plot verrate, sage ich einfach: Lest dieses Buch. Punkt.