Der Berliner Winter bietet nicht viel, was für ihn spricht – meistens ist er nur kalt, nass, grau. Doch jedes Jahr im Februar wird die winterliche Tristesse ein paar Tage lang durchbrochen. Auf dem Potsdamer Platz drängen sich dann mal nicht nur die Tourist*innenhorden, wird der rote Teppich ausgerollt und gibt Berlin sich (für seine Verhältnisse) glamourös: Die Berlinale steht an! Der diesjährigen Ausgabe ging ein offener Brief von 79 Filmschaffenden voraus, in dem eine programmatische und organisatorische Neuausrichtung des Festivals gefordert wurde. Berlinale-Chef Dieter Kosslick sah das (nicht zu Unrecht) als Angriff auf seine Person, seitdem wird diskutiert und gestritten.
Viele Filmfans lässt diese Diskussion wohl eher kalt. Sie freuen sich darauf, Filme zu schauen, sich in plüschigen Kinosesseln zurückzulehnen und einfach mal zu fliehen aus diesem Berliner Winter. Bei dem stets ausufernden Programm der Berlinale kann man allerdings schnell mal den Überblick verlieren und so bleibt wie immer die Frage: Was lohnt sich denn? Welche Filme sollte man sehen? Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden, aber ein paar Highlights gibt es schon. Doch Achtung: Die Berlinale macht umso mehr Spaß, je mehr man bereit ist, sich überraschen zu lassen.
3 Tage in Quiberon (Spielfilm, Sektion: Wettbewerb)
1981 gab Romy Schneider dem Stern ein legendäres Interview und ließ sich dafür von Robert Lebeck in dem bretonischen Kurort Quiberon ablichten. In 3 Tage in Quiberon zeigt Regisseurin Emily Atef den Entstehungsprozess dieses Interviews, fängt die besondere Atmosphäre dieser Tage ein, lässt Schneider (Marie Bäumer) sich bis zur Schmerzgrenze öffnen. Mit dabei ist auch Schneiders Freundin Hilde (Birgit Minichmayr), die ihre Freundin vor sich selbst schützen möchte. Mit ihrer Ehrlichkeit lockt Schneider sogar den zynischen Journalisten (Robert Gwisdek) aus der Reserve. Die Erfahrung zeigt: Biopics funktionieren dann am besten, wenn sie nicht von der Kindheit bis zum Tod alles zeigen, sondern sich auf besondere Momente, eine besondere Zeit im Leben der porträtierten Person konzentrieren. 3 Tage in Quiberon hat also gute Voraussetzungen, vielschichtig statt langatmig zu sein.
In den Gängen
Der Großmarkt ist sowas wie ein eigenes Universum, hier herrschen besondere Spielregeln und Verhaltensweisen. Christian (Franz Rogowski) ist neu im Großmarkt und findet sich in den langen Gängen und beim Umgang mit dem Gabelstapler erstmal nicht zurecht. Doch es gibt ja noch Bruno (Peter Kurth), den hilfsbereiten Kollegen aus der Getränkeabteilung, und Marion (Sandra Hüller) von den Süßwaren – Christian verliebt sich in Marion, doch die ist verheiratet, wenn wohl auch nicht sehr glücklich. Als Marion plötzlich krankgeschrieben ist, verliert Christian den Halt. Regisseur Thomas Stuber taucht tief in die Lebenswelt eines einfachen in der ostdeutschen Provinz ein, zeigt kleine Momente des Glücks und der Hoffnung – und hat mit Rogowski (Victoria) und Hüller (Toni Erdmann) zwei der derzeit interessantesten deutschen Schauspieler*innen dabei. (Spielfilm, Sektion: Wettbewerb)
Impreza – Das Fest
Warschau, Sommer 2016: Matriarchin Danuta bereitet ihre goldene Hochzeit vor und hat genau im Kopf, wie diese ablaufen soll. Die Familie fügt sich meist gutwillig, dieses Jahr sollen die Mädchen bei einer Modenschau die Lieblingskleider der Großmutter präsentieren. Einige Tage vor dem großen Ereignis reist Danutas deutsche Nichte Alexandra nach Warschau, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Doch statt familiärer Eintracht erwarten sie dort politische Diskussionen – Alexandra merkt, wie konservativ und traditionell die Frauen in ihrer Familie sind und sie möchte herausfinden, wie die ideologischen Gräben innerhalb der Familie so groß werden konnten. In Impreza – Das Fest begibt die Filmemacherin Alexandra Wesolowski sich auf Spurensuche in ihrer eigenen Familie, stellt Fragen, führt unangenehme Gespräche. So ist der Film auch ein Porträt der polnischen Gesellschaft im Kleinen, das Porträt eines Landes, welches seit dem Sieg der rechtskonservativen PiS bei den Wahlen 2015 einen Rechtsruck erlebt. (Dokumentarfilm, Sektion: Perspektive Deutsches Kino)
Figlia Mia
Die zehnjährige Vittoria (Sara Casu) wächst in einem kleinen sardischen Dorf auf. Tourist*innen verschlägt es nicht dorthin, die Gemeinschaft bleibt unter sich. Eines Tages lernt Vittoria bei einem Rodeo Angelica (Alba Rohrwacher) kennen – die ungestüme junge Frau ist so anders als Vittorias besorgte, fürsorgliche Mutter Tina (Valeria Golino). Angelica und Tina verbindet ein Geheimnis, doch davon ahnt Vittoria nichts: Sie ist fasziniert von Angelica und bewundert sie dafür, dass sie ihren eigenen Weg geht. Regisseurin Laura Bispuri war zuletzt 2015 mit einem Film auf der Berlinale vertreten: In Sworn Virgin begleitete sie eine junge Albanerin (Alba Rohrwacher), die in den albanischen Bergen als „eingeschworene Jungfrau“, also als Mann, lebte, und nun ein neues Leben in Mailand beginnen will – als Frau. Im Mittelpunkt von Bispuris Filmen stehen Frauen auf der Suche nach sich selbst und nach Vorbildern, die ihnen den Weg weisen können. (Spielfilm, Sektion: Wettbewerb)
Game Girls
Los Angeles. Die Afroamerikanerinnen Terri und Tiahna leben in Skid Row, einer Gegend, die als amerikanische „Hauptstadt der Obdachlosen“ bekannt ist – der Alltag des lesbischen Paares spielt sich am gesellschaftlichen Rand ab, zwischen Gefängnis, Alkohol und Drogensucht. Trotzdem verlieren die beiden nicht die Hoffnung und beginnen in einem von der Filmemacherin initiierten Workshop für Frauen aus der Community einen Prozess der Selbstermächtigung. Alina Skrzeszewska begleitet Terri und Tiahna bei ihren täglichen Kämpfen, bei ihren kleinen Erfolgen. (Dokumentation, Sektion: Panorama)
Was sonst noch interessant aussieht:
Damsel (von David und Nathan Zeller): Western mit Robert Pattinson als verliebtes Greenhorn und Mia Wasikowska als taffe Heldin, die sich sehr gut selbst zu helfen weiß.
Eva (von Benoît Jacquot): Isabelle Huppert gibt die attraktive, mysteriöse Edelprostituierte Eva, die einen jungen Mann um den Finger wickelt.
La terra dell’abbastanza (von Damiano und Fabio D’Innocenzo): Ein junger Römer gerät in die Fänge der Mafia und entfernt sich immer mehr von seinem besten Freund – gibt es ein Entkommen?
Touch me not (von Adina Pintilie): In einer laborartigen Atmosphäre begibt der Film sich auf eine emotionale Expedition – es geht um Intimität und um Facetten von Sexualität jenseits aller Tabus.