Liebe Modebranche,
ich habe mir heute morgen zum dritten Mal die Christian Siriano Show der NYFW angeschaut und ich weiß nicht, ob ich Freudentränen vergießen soll oder in meinen Pullikragen beißen will. Warum? Das versuche ich Ihnen jetzt zu erläutern.
Christian Siriano und Eckhaus Latta schickten nicht nur Frauen jeder Hautfarbe, sondern auch jeglicher Konfektionsgröße über den Laufsteg, sie setzten ein Zeichen, das überall bejubelt wurde. Und tatsächlich, auch als ich die Insta-Stories der Schauen zum ersten Mal sah, hätte ich glatt ein (im Rahmen meiner Fähigkeiten) verkorkstes Rad schlagen können. Ich stimmte sogar Begeisterungschöre an, weil ich mir schon lange mehr Diversität auf dem Catwalk wünschte, endlich bekam und schon unzählige Male über Modelgrößen und den ganzen Einheitsbrei diskutierte. Auch ich habe den Hashtag #selflove, die Body-Positive-Bewegung, den Film Embrace gefeiert und wurde nicht müde, alle Aktionen zu teilen. Aber, und jetzt kommt das Aber: Ich muss als Realistin eben auch feststellen, dass es sich bei zuvor genannten Designern nahezu um Ausnahmen handelt. Zwei besonders hervorzuhebende Beispiele von insgesamt offiziell 78 gezeigten Präsentationen der New Yorker Modebranche. Schade.
Nun, die Frage, die mir auf der Seele brennt, eigentlich verehrte Modebranche: Warum ist das noch immer so? Die Mode selbst spiegelt sich in Ihren Designs doch auf solch diverse Art und Weise wider, wie die Charaktere unserer Gesellschaft eben sind. Kurzum: Mode sollte doch eigentlich unsere Gesellschaft abbilden, ihr Denkanstöße verpassen und den Finger in Wunden lege. Warum bekommen die Modehäuser das denn nicht hin? Wieso präsentieren Sie ihre so facettenreichen Linien denn nicht auch an facettenreichen Menschen? Wieso zeigen Sie die zwischenmenschlichen Unterschiede also nicht viel öfter auf dem Catwalk. Wir leben doch im Jahr 2018, oder habe ich mich vertan?
Ich will mein Anliegen noch einmal unterstreichen: Mode versteht sich doch eigentlich als eine eigene interkulturelle Sprache, die Brücken schlagen könnte. Sie schafft Aufmerksamkeit und Aufsehen wie ein Hollywood-Blockbuster – da kann man sich doch nicht einfach an der Vorbilsfunktion vorbeimogeln, oder? Denn Fakt ist nunmal, dass Sie, liebe Modeindustrie, in vielen Fällen ein einseitiges Frauenbild vermitteln – und das kann doch wirklich nicht mehr sein!
Denn so schön die Schauen von Christian Siriano und Eckhaus Latta im ersten Moment wirken, so traurig sind sich auch zugleich: Sie gehören zur absoluten Ausnahme. Und sind wir mal ehrlich: Beide Design-Häuser versuchen sich zwar an der Diversität und schickten Models mit Größen 32 und 46 über den Laufsteg, die übrigen Konfektionsgrößen dazwischen, der bunte Regenbogen sozusagen, wurde allerdings keinesfalls erfüllt. Hat man sich hier entlang verschiedenster Quoten gehangelt, zwei, drei sogenannte Plus Size Modelle neben die üblichen Size Zeroes gesteckt? Oder sehe ich die Entwicklungen vielleicht zu kritisch? Bin ich zu ungeduldig und würdige Schritte in Richtung mehr Diversität, wie das Zeigen von lesbischen Models zum Valentinstag, dem Lingerie Label Lonely, das verschiedenste Körper unterschiedlichsten Alters zu seinem Aushängeschild gemacht hat oder die eben angesprochenen Schauen auf der NYFW, zu wenig? Suche ich vielleicht das Haar in der Suppe?
Erklären Sie es mir doch bitte! So würde ich mir einfach nur wünschen, dass Ihr, die Modebranche, mit gutem Vorbild voranschreitet und uns, die Konsument*innen, mehr an die Hand nehmt. Ihr lasst euch doch sonst nichts von uns erzählen, wollt stets einen Schritt voraus sein – warum seid Ihr an dieser Stelle so reaktiv, statt uns zu zeigen, wie eine wünschenswerte Gesellschaft auszusehen hat?
Liebe Modebranche, entwickelt euch endlich weiter, Body-Positivity und Body-Neutralism sind angesagt und brauchen gleichzeitig noch so viel Support.
Denn das hier ist nicht nur ein Trend, sondern eine schon längst überfällige, gesellschaftliche Entwicklung. Schlimm genug, dass wir mit Models jahrelang ein bestimmtes Körpermaß verbunden haben, dass wir unseren Blickwinkel erst selbst justieren mussten, um zu verstehen, dass dieses gezeigte, homogene Gesamtbild ganz und gar kein Schönheitsideal sein darf. Nun ist die Zeit für Veränderung doch wirklich längst überfällig. Und so sehr ich mich über Schauen von Christian Siriano und Eckhaus Latta freue – möchte ich mich doch gleichzeitig nicht mehr über so etwas freuen müssen. Es sollte die neue Norm sein, ein Selbstverständnis.
Mit freundlichen Grüßen,
Linda Luna Schumacher
PS: Liebe Modebranche, wenn Ihr innerer Moralapostel beim Durchlesen meines Textes sich noch immer nicht rührt, kriege ich Sie ja vielleicht immerhin mit dem wirtschaftlichen Faktor: Diversität auf dem Laufsteg macht auch aus Marketing- und PR-Gründen durchaus Sinn. #Dollarzeichen.