Letzte Woche, pünktlich zum internationalen Frauentag am 8. März, veröffentlichte die New York Times unter dem Titel Overlooked 15 Nachrufe auf Frauen, die in der Zeitung nie einen offiziellen Nachruf erhalten haben. In der Begründung heißt es: „Seit 1851 hat die New York Times tausende von Nachrufen veröffentlicht (…). Die große Mehrheit zeichnete das Leben von Männern nach, hauptsächlich weiße; sogar in den letzten zwei Jahren war nur eine von fünf Personen weiblich. Charlotte Brontë schrieb ‚Jane Eyre‘; Emily Warren Roebling beaufsichtigte den Bau der Brooklyn Bridge, als ihr Ehemann krank wurde; Madhubala schlug Hollywood in ihren Bann; Ida B. Wells kämpfte gegen Lynchmorde. Und doch blieben alle ihre Tode in unseren Seiten unbemerkt, bis jetzt.“
Systematisch unsichtbar gemacht
Die Geschichte vergisst Frauen, verschweigt sie, redet ihre Errungenschaften klein – sie macht sie unsichtbar, systematisch. Weil Geschichte nämlich schon immer hauptsächlich von Männern geschrieben wurde. Marguerite Nebelsztein vom französischen Feminismus-Kollektiv Georgette Sand (ein Wortspiel mit dem Namen der französischen Schriftstellerin George Sand, die bewusst ein männliches Pseudonym wählte) erklärt:
Nebelsztein und ihre Kolleginnen haben deshalb ein Buch herausgebracht: Ni vues ni connues (auf Deutsch in etwa: Ohne eine Spur zu hinterlassen) versammelt faszinierende und spannende weibliche Persönlichkeiten, die von der Geschichte vergessen, die unsichtbar gemacht wurden. Das Kriterium, wer es ins Buch schafft, war simpel: „Wenn diese Frau ein Mann gewesen wäre, würde sie in den Geschichtsbüchern auftauchen?“. Alle Welt kennt den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy – aber wer kennt schon seine Schwester, die musikalisch nicht weniger talentierte Fanny Hensel? Auch Mozarts Schwester Nannerl stand immer im Schatten ihres genialen Bruders.
Unterschiedliche Maßstäbe
Geht es um Geschichtsschreibung, wird zuerst an die Männer gedacht, dann an die Frauen. Aktuelles Beispiel: Die SPD. Auf spd.de wurden bis vor kurzem in der Rubrik Größen der Sozialdemokratie 16 Männer aufgeführt – und nur drei Frauen. Amina, Kolumnistin des Blogs Kleinerdrei, fiel das auf. Sie kontaktierte den SPD-Parteivorstand und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Und siehe da: Heute finden sich auf der Seite 15 Männer und 16 Frauen.
Das Problem ist nicht, dass Frauen nichts Großartiges geleistet haben. Es ist nicht schwer, herausragende Frauen in der Geschichte zu finden, wenn man sie denn sucht. Aber das, was Männer geleistet haben, gilt immer noch als großartiger, als wertvoller. An Männer und Frauen werden, was ihre historische Leistung angeht, unterschiedliche Maßstäbe angelegt: Frauen müssen nahezu Überirdisches leisten, um als bedeutend, als geschichtsträchtig angesehen zu werden. Und selbst das reicht manchmal nicht aus: Marie Curie gewann nicht nur sowohl den Chemie- als auch den Physik-Nobelpreis, sie war auch ihrem Mann Pierre – mit dem zusammen sie die chemischen Elemente Radium und Polonium entdeckte – wissenschaftlich überlegen. Trotzdem wurde eine Pariser Métro-Station 1946 auf den Namen „Pierre Curie“ getauft und behielt diesen Jahrzehnte lang. Erst 2007 wurde der Name „Marie“ hinzugefügt
Sich selbst unsichtbar machen
Doch nicht immer sind es Männer, die Frauen unsichtbar machen und aus der Geschichte ausradieren. Marguerite Nebelsztein spricht von „Selbst-Unsichtbarmachung“: Frauen verleugnen ihre eigenen Errungenschaften, spielen sie herunter, weisen sich selbst die Rolle der Muse oder Unterstützerin eines berühmten Mannes zu. Und diese Selbst-Unsichtbarmachung zeigt sich nicht nur in der Geschichte, sondern zum Beispiel auch im beruflichen Kontext: Wie oft nehmen Frauen sich zurück, weil sie Angst haben, zu laut zu sein, Platz einzunehmen, zu stören? Ihnen wurde beigebracht, dass dieses das richtige Verhalten ist – Frauen, die stolz auf ihre Leistungen sind, die selbstbewusst Anerkennung einfordern, die nicht bereit sind, sich zurückzunehmen, gelten schnell als arrogant, als „Karrieristinnen“, als unweiblich. Es geht also nicht nur um die Geschichte, es geht um das hier und heute.
Immerhin: So langsam scheint sich ein Problembewusstsein zu entwickeln. Das zeigen Aktionen wie die der New York Times und der SPD. Natürlich, noch immer werden Frauen und ihre Geschichten viel zu oft nicht ernst genommen, werden sie mit dem Hinweis, sie seien nicht „wichtig“ genug, abgetan. Doch in den letzten zwei Jahren gab es eine Flut von Publikationen, die nichts anderes machten, als bedeutende Mädchen und Frauen vorzustellen, ihnen Raum zu geben, sie wiederzuentdecken. Good Night Stories for Rebel Girls ist zum weltweiten Beststeller geworden, Frauengeschichte zum Trend.
Ein Platz in der Geschichte
Und das ist gut so, denn Frauen wurde ihr Platz in der Geschichte viel zu lange verwehrt. Es warten noch hunderte, tausende Frauen darauf, überhaupt entdeckt oder wiederentdeckt zu werden, als Vorbilder für eine neue Generation von Mädchen und Frauen dienen zu können. All das negiert nicht die Verdienste von Männern, es spricht ihnen ihre Errungenschaften nicht ab – dass ein Mozart, ein Egon Bahr Großartiges geleistet haben, steht nicht zur Debatte. Aber Geschichte wird nun vielfältiger, bunter, vielschichtiger. Denn Geschichte wird eben nicht nur von Männern gemacht.