Als würde ich ein Pflaster abziehen, Augen zu und durch, sagte ich mir, genau so mache ich das jetzt, superschnell und sau schmerzhaft, aber ohne langes Leid. Und dann zack. Schere angesetzt und los geschnitten, schön gerade und trotzdem schief. So ist das, wenn man sich selbst das Haar schneidet, so ist aber auch das Leben, zumindest manchmal: Man denkt, man hat’s im Griff, alles Roger und nach Plan und sehr stringent, aber ehe man sich versieht, steht man obendrauf auf der Zacke, die man nicht hat kommen sehen, oder schon dahinter, am tiefsten Punkt von dem, was eben noch so wenig fruchteinflößend wirkte wie ein tranfunzeliges Meer. Man hat dieses Etwas ja auch mindestens so gern angeschaut, voll Zuversicht und beruhigender Monotonie. Die einen nennen es Alltag, man planscht da ja so durch, andere Beziehung, Gesundheit oder Job. Bis der Wind plötzlich dreht und als Sausturm Richtung Ufer fegt und dort sämtliche Wurzeln sorgsam gehegter Gewohnheits-Pflänzchen raus reißt wie ein ungehobeltes Wildschwein und dieses Wildschwein macht dann einfach nochmal rein in diese Löcher und pflanzt dann ein bisschen Panik drauf oder Unsicherheit oder Wut oder Erschöpfung oder gleich alles auf einmal, es sprießt ja so schön! Genau das ist mir neulich passiert. Einen ganzen Vorgarten voll von diesem Unkraut habe ich gesammelt. Und naja, besagte Schweine! Mein eines Schwein ist ein Mann, das andere mein Körper, beide sind ein bisschen kaputt, ganz offensichtlich. Also denke ich jetzt darüber nach, ob man da vielleicht auch einfach was weg- oder abschneiden kann, wie an meiner Frisur.
Nur bräuchte es dazu ein bisschen mehr als eine Schere, fürchte ich, zumindest im Falle des Mannes (der Rest steht auf einem anderen Blatt geschrieben), eher Mut und Tatendrang und Durchsetzungsvermögen und einen Tick mehr Unabhängigkeit. Ach was. Tonnenweise davon! Ja, ich weiß, mir geht der Begriff auch auf die Nerven, aber vielleicht aus anderen Gründen. Eigenes Geld habe ich ja, ein eigenes Leben auch. Aber das Herz klebt wie mit Zwei-Komponenten-Kleber dran geleimt am Mann, einerseits, und andererseits an einer romantischen Vorstellung von Zweisamkeit, die aber vielleicht überhaupt nicht jedem taugt. Mir schon, das weiß ich aber erst jetzt. Der Mann dachte sich neulich nämlich auch: Komm, jetzt, als würde ich ein Pflaster abziehen, Augen zu und durch, superschnell und sau schmerzhaft, aber ohne langes Leid. Und packte seine Sachen, trotz intaktem Alles. Sei ja gar nicht schlimm. Nur für mich eben. In gewisser Weise bin ich bisweilen wohl inkognito-konservativ unterwegs gewesen in Liebesdingen – ich ahnte es zwar, tat aber so, als sei das gar nicht so und ich saumäßig offen, aber nunja. Stimmt womöglich gar nicht. Was blöd ist. Weil das Wildschwein, das mein Herz raubte, es sich aus einer waghalsigen Laune heraus jetzt nunmal viel weniger konform wünscht. Anders „als die Anderen“ eben. Nicht so klassisch, bitteschön.
Seit dem Puller-Strahl, der mich mit dieser Offenbarung traf, weiß ich immerhin, was ein LAT-Paar ist uns dass Tim Burton und Helena Bonham Carter drauf schwören, die Verrückten. Ein getrenntes Leben im gemeinsamen Leben. Haben Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre ja auch propagiert; der alte Haudegen durfte erst einziehen, als er so richtig krank wurde. Ich weiß jetzt außerdem, dass es (bei mir) immer anders kommt, als gedacht, dass Johanniskraut aus der Flasche „gegen temporäre geistige Erschöpfung“ hilft und Rescue Tropfen aus Bachblüten vielleicht sogar gegen die Klapse. Ja, wirklich. Das muss man sich ja mal vorstellen. Kurz vor dem 30. Geburtstag kommt der, mit dem man imaginär schon den gemeinsamen Abgang im Alter plante, wegen all der Harmonie, plötzlich mit einem feschen Lebenskonzept um die Ecke, das laut irgendeines Online-Dating-Portals (ich habe recherchiert!) immer beliebter wird bei neu verliebten Mittfünfzigern nach abgeschlossener Familienplanung inklusive mindestens einer vorangegangenen Scheidung. Jackpot. Dass meine frühzeitige Vergreisung einst so aussehen würde, wer hätte das gedacht. Ich nicht, deshalb kaufe ich nun auch so gern pflanzliche Waren in der Apotheke ein. Und Kneipp Entspannungsschaumbäder ohne Ende.
Auch, weil mir nicht bewusst war, wie engstirnig ich selbst bin. Wie romantisiert und reinsozialisiert meine eigenen Vorstellungen von einer gesunden Beziehung sind. Weil ich eigentlich überhaupt nicht mehr weiß, was meine Vorstellungen sind, wenn mans genau nimmt. Mich hat ja noch nie jemand gefragt oder herausgefordert, bis jetzt. Es lief eher immer so „wie man das eben macht“, ganz automatisch. Jetzt ist Schluss damit, jetzt wird kräftig reflektiert. Irgendwann mussten sie ja kommen, die Grundsätze. Und Zeiten, in denen man zwar nicht auf sich selbst klarkommen, aber auf sich achten muss. In denen man sich fragen sollte, was man denn nun wirklich will und erwartet, vom Leben, so ganz allgemein betrachtet, aber auch spezifisch. Den kennen ja viele, diesen Zwiespalt: Zwischen dem einen geliebten aber etwas verrückten Wildschwein und dem angepassten Schweinchen Babe zum Beispiel. Weil einen das langweilige Wattenmeer unterm Strich vielleicht doch glücklicher machen könnte als abenteuerliche Stürme. Weil man selbst vielleicht eher Langeweilerin als Abenteurerin ist. Oder andersrum.
Ich wünschte mir in den vergangenen Tagen wirklich häufig, ich könne sagen: Weg mit dem Plunder. Mit allem. Alles neu, alles auf Anfang. Ihr kennt das. Es wäre ja manchmal wirklich leichter. Ich dachte auch, so könne es ja gar nicht weitergehen. Aber als die dicken Haarbüschel am Wochenende gen Boden flogen, da war das zwar eine kindische Form von Protest, aber auch eine Art Befreiung. Eine metaphorische Handlung, die sich von meinem Kopf auf mein Gefühl übertrug, binnen Sekunden. Was hab ich mich stark gefühlt. Und rebellisch! Weg mit den Haaren, weg mit der Last des Wildgewordenen, die ich eigentlich gar nicht tragen muss. Weg mit dem, was ich ohne wirklich nachzudenken stets für richtig hielt und hin zur reinen Wahrheit. Auf ins Abenteuer. Ob es nun glücken mag oder nicht, ich habe schon jetzt etwas dazugelernt: Dass ich endlich wieder bei mir selbst ankommen möchte. Und dass der Garten entrümpelt gehört. Ich stelle mich da jetzt einfach mal ganz mutig rein. Auch wenn „man das eigentlich nicht so macht“. Obwohl „man doch nach zwei Jahren nicht einfach wieder getrennt leben kann“. Ich bin dann also ab sofort eine Art Baum in dieser neumodischen Living-Apart-Together-Beziehung. Weil zwischen zwei Bäumen, die zu nah aneinander stehen, ja schließlich auch nichts wachsen kann. Echt jetzt? Najanein. Aber lieber Baum mit alleinstehender starker Wurzel als angepisstes Unkraut. Vorerst. Denn ich schwöre: Wenn ich jetzt nicht kräftig gepflegt werde, suche ich mir einen neuen Garten. Einen ganz für mich allein.
Und jetzt ihr: Geht sowas? Haben wir alle zu viel Hollywood im Kopf? Oder gehts auch „zu“ modern?