Jedes Wochenende landet ein Newsletter des Guardian in meinem Postfach. Darin finden sich die sogenannten Long Reads der Woche, also Texte, die etwas länger sind und in die Tiefe gehen: Reportagen, Porträts, Analysen, Hintergrundberichte. Als ich Ende Januar die allwöchentliche E-Mail anklickte, machte mein Herz einen kleinen Hüpfer: Der aktuelle Long Read war ein ausführliches Porträt über Mary Beard! Mary Beard, die britische Althistorikerin, die mit ihrer unkonventionellen Art und ihrem ganz eigenen Stil auffällt – und deshalb in Großbritannien ein richtiger Star ist.
Ausgeprägte Bullshit-Allergie
Das ist umso ungewöhnlicher, als Beard bereits 63 Jahre alt ist und sich, nun ja, mit sehr weit zurückliegenden Zeiten beschäftigt: Beards Forschungsgebiet umfasst die Geschichte des antiken Roms und Griechenlands. Aber Beard ist eben keine gewöhnliche Wissenschaftlerin: Sie sitzt nicht im Elfenbeinturm (der in ihrem Fall an der University of Cambridge stände), sondern twittert fleißig, schreibt einen Blog und tritt regelmäßig im Fernsehen und Radio auf. Die Menschen hören ihr zu, denn Beard besitzt die Gabe, Bezüge zwischen Historie und Moderne herzustellen und klassische wissenschaftliche Methoden mit einer etwas zurückgelehnten Haltung zu verbinden.
Beard flucht in Interviews, sie mag Auseinandersetzungen, Diskussionen, und ist stets bereit, ihr eigenes Denken zu hinterfragen oder ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse, wenn nötig, zu revidieren. So ist Wissenschaft für sie keine Einbahnstraße, an deren Ende die große Erleuchtung in Form von eindeutig feststellbaren Ergebnissen steht – sondern ein diskursiver Prozess, in dessen Verlauf man aufgrund von Quellen vielleicht einen Einblick bekommt, wie es einmal gewesen sein könnte. Alte Geschichte, so schrieb Beard es mal zusammen mit ihrem Kollegen John Henderson im Buch A Very Short Introduction to Classics, existiere „in that gap between us and the world of the Greeks and the Romans.“ In ihren Büchern kombiniert Beard verschiedene Forschungsansätze und pickt sich aus Hilfs- und Randdisziplinen das heraus, was ihr wichtig und nützlich erscheint. Eklektizismus als Methode.
Das kommt offensichtlich an. Mary Beards Bücher, darunter Pompeii (2008) und SPQR (2015), sind Beststeller. Doch natürlich bekommt Beard auch viel Gegenwind: Weil sie eine ältere Frau ist, weil sie sich ungerührt (und kontrovers) an öffentlichen Debatten beteiligt und keinen Hehl daraus macht, dass sie eine überzeugte Feministin ist. Weil bei ihr Geradlinigkeit so offensichtlich auf eine ausgeprägte Bullshit-Allergie trifft. Als Beard für die BBC 2012 eine Fernsehserie über das antike Rom moderierte, schrieb der Kritiker A. A. Gill anschließend, sie sei „zu hässlich fürs Fernsehen“. Als Beard 2013 in einer Sendung auf die positiven Effekte von Immigration in Großbritannien hinwies, folgte ein Sturm von Entrüstung, Beschimpfungen und Hass. Doch auch wenn Beard diese Reaktionen trafen – unterkriegen ließ sie sich nicht: Gill antwortete sie, er gehöre zur „blokeish culture“, die intelligente Frauen gerne verächtlich mache; auf den Shitstorm reagierte sie, indem sie die schlimmsten Kommentare auf ihrem Blog veröffentlichte. Beard geht Auseinandersetzungen grundsätzlich nicht aus dem Weg: Wo andere nicht auf die Idee kämen, überhaupt mit einem Typen wie dem UKIP-Anhänger und Brexit-Befürworter Arron Banks zu debattieren, da tat Beard nicht nur genau das (er behauptete, das römische Imperium sei aufgrund von Immigration zusammengebrochen; sie antwortete auf Twitter, er solle sich doch mal ausführlicher mit der Geschichte des Altertums beschäftigen), sondern traf sich auch noch mit ihm zum Lunch.
Macht, neu definiert
Als Wissenschaftlerin und Feministin weiß Mary Beard aus eigener Erfahrung, wie mit Frauen in der Öffentlichkeit umgegangen wird, hat Sexismus und Diskriminierung erfahren. 2014 hielt sie im British Museum einen Vortrag zum Thema Oh Do Shut Up Dear!, 2017 folgte der zweite Teil des Vortrags namens Women in Power. Das Buch, welches 2017 beide Vorträge unter dem Titel Women and Power. A Manifesto zusammenfasste, wurde zum internationalen Beststeller und machte Beard auch über Großbritannien hinaus bekannt. Ich hatte das Buch bereits gelesen, als ich auf das Guardian-Porträt von Mary Beard stieß – und war danach umso begeisterter von Beards Thesen, ihrer Art, Dinge zu analysieren.
Women and Power ist ein schmaler Band, nicht einmal hundert Seiten dick, und doch steckt so viel in ihm. Im ersten Teil untersucht Beard die Mechanismen, mit denen Frauen zum Schweigen gebracht werden und natürlich beginnt sie ihre Analyse mit einem Ausflug ins alte Griechenland. Sich Gehör zu verschaffen, gehört zu werden, so Beard, sei für Frauen Voraussetzung dafür, teilzuhaben an der Macht. Dieser Macht widmet sie sich konkreter im zweiten Teil, wo sie über die Darstellung von erfolgreichen Frauen, vor allem Politikerinnen, spricht. Sie zeigt, welchen Hass Frauen immer noch aushalten müssen, wenn sie in der Öffentlichkeit den Mund aufmachen, wenn sie Teil haben wollen an der (männlichen) Macht. Beard fordert dazu auf, den Begriff der Macht neu zu definieren. Sie schreibt: „We have no template for what a powerful woman looks like, except that she looks rather like a man.” Und: “We have to be more reflective about what power is, what it is for, and how it is measured.” Es bringe nichts, Frauen in Strukturen hineinzudrücken, die bereits männlich codiert seien – man müsse stattdessen die ganze Struktur verändern.
Den eigenen Weg finden
Mary Beard selbst sprengt Strukturen, indem sie einfach so ist, wie sie ist. Indem sie sich ihren Platz in der Öffentlichkeit nimmt, ohne sich dafür zu entschuldigen und darauf besteht, für das anerkannt zu werden, was sie tut – nicht dafür, wie sie aussieht. Beard zeigt, dass es sich im Leben immer lohnt, einen eigenen Weg zu finden und diesen zu gehen, auch, wenn dieser etwas unkonventionell sein mag. Dass es darum geht, herauszufinden, was für einen selber funktioniert und dabei nicht stets auf die anderen zu schielen. Beard steht zu ihren Überzeugungen, sucht aber eben auch den Austausch und verschließt sich anderen Meinungen nicht kategorisch. Eine junge Beard-Bewunderin, heißt es im Guardian-Porträt, habe ein Gedicht mit dem Titel When I Grow Up I Want To Be Mary Beard veröffentlicht. Nun gibt es natürlich nur eine Mary Beard, aber das ein oder andere kann ich mir, können wir uns, schon von ihr abschauen. Egal, wie jung oder alt wir sind oder was wir beruflich machen. Cheers, Mary Beard!