In der amerikanischen Literaturszene gibt es etwas, das sich Great American Novel™ nennt: Ein Roman, der sinnbildlich für die USA steht, für Themen der Zeit, für die amerikanische Identität. Es beschäftigt sich mit den großen Fragen, ist episch, seine Charaktere verkörpern einerseits Durchschnittsamerikaner*innen und dann auch wieder nicht. Und: Das Great American Novel™ wird nahezu ausschließlich von weißen Männern geschrieben. Namen, die in diesem Kontext sofort fallen, sind John Irving, John Steinbeck, Jeffrey Eugenedis oder Jonathan Franzen. Unter anderem. Frauen scheint also schlicht die Fähigkeit zu fehlen, über die Art von universeller und doch individueller Erfahrung zu schreiben, die für das Great American Novel™ so unabdingbar ist.
Oder? Die amerikanische Autorin Meg Wolitzer sieht das anders. In einem vielbeachteten Essay warf sie 2012 die Frage auf, ob Jeffrey Eugenedis Buch Die Liebeshandlung, in dem es hauptsächlich um Liebe und die Erfahrungen einer jungen Frau damit geht, genauso viel Beachtung gefunden hätte, wenn er von einer Frau geschrieben worden wäre. Fazit: Wohl kaum. Stattdessen, so Wolitzer, wäre das Buch in die Abteilung Women’s Fiction abgeschoben worden, „that close-quartered lower shelf where books emphasizing relationships and the interior lives of women are often relegated.” Einige Männer würden von Frauen geschriebene Belletristik eher als „one soft, undifferentiated mass that has little to do with them” ansehen. Das schreibt eine Frau, die mit Die Interessanten, welches 2013 erschien, selbst etwas verfasst hat, das gut und gerne als Great American Novel™ gelten könnte – wenn, ja wenn, Wolitzer denn ein Mann wäre.
Begegnung mit der guten Fee des Feminismus
Anlässlich der Publikation von Wolitzers neuem Werk The Female Persuasion – in den USA bereits ein Bestseller – hat der zuständige Verlag nun einiges unternommen, dieses als das neue Great American Novel™ zu positionieren. Schließlich geht es in dem Buch um Feminismus, eines der Themen unserer Zeit. The Female Persuasion, das wird nicht explizit gesagt, schwingt aber implizit mit, ist quasi das Buch zur #MeToo-Bewegung, das Buch, welches wie kaum ein anderes den Zeitgeist trifft. Die Erwartungen an Wolitzer und ihr Buch waren also riesig – halten sie ihnen stand?
Die Hauptprotagonistin von The Female Persuasion ist Greer Kadetsky, eine schüchterne, fleißige Studentin, die 2006 gerade ihr Studium begonnen hat. Weil Greers Eltern zu bekifft waren, um den Antrag auf finanzielle Unterstützung richtig auszufüllen, kann Greer nicht wie geplant nach Yale gehen, sondern muss sich mit einem Platz am eher mittelmäßigen Ryland College zufrieden geben. Greers Freund Cory ist der Sohn portugiesischer Einwander*innen, stammt aus einem Arbeiterhaushalt und ist genauso wissbegierig und intelligent wie Greer. Er hat es nach Princeton geschafft, was bedeutet: Fernbeziehung. Greer ist auf der Suche nach sich selbst, unzufrieden, unsicher. Auf einer College-Party wird sie von einem frat boy begrabscht – ein Erlebnis, das sie hilflos und wütend zurücklässt. Zusammen mit anderen Studentinnen setzt sie sich dafür ein, dass dieser Student, ein notorischer Grabscher und Sexist, bestraft wird. Mit eher bescheidenem Erfolg. Im Stillen wächst Greers Wut:
Eines Tages nimmt Greers neue beste Freundin, die lesbische Aktivistin Zee, sie mit zu einem Auftritt der bekannten Feministin Faith Frank. Frank ist so etwas wie eine gute Fee des Feminismus: Seit den 1970ern kämpft sie für Gleichberechtigung, hat einen Bestseller geschrieben (The Female Persuasion) und zusammen mit anderen das feministische Magazin Bloomer gegründet. Greer ist von der Energie und der Ausstrahlung der älteren Frau fasziniert und nutzt eine Begegnung auf der Toilette, um mit Faith Frank ins Gespräch zu kommen. Die drückt ihr ihre Visitenkarte in die Hand. Plötzlich hat Greer eine Vorstellung davon, wie sie sein möchte, welche Ziele sie hat, welche Zukunft sie für sich sieht. Cory berichtet sie: „My head was cracked open.“ Nach ihrem Collegeabschluss 2010 setzt Greer alle ihre Hoffnungen auf einen Job bei Bloomer – doch das Magazin ist pleite, es wird dichtgemacht. Greer hat Glück: Frank bietet ihr eine Stelle in ihrer neuen Stiftung Loci an, die von einem Risikokapital-Anleger mit fragwürdiger Moral finanziert wird. Loci organisiert vor allem große Frauen-Konferenzen und setzt auf eine allgemein empowernde Botschaft. Während Greer glücklich ist und im Schreiben von Reden für unterprivilegierte Frauen ihre Berufung findet, suchen Cory und Zee weiter nach ihrem Weg im Leben. Cory gibt eine vielversprechende Karriere auf, um nach einer Familientragödie in seinen und Greers kleinen Heimatort zurückzukehren und sich dort um seine Mutter zu kümmern. Zee, die sich schon seit vielen Jahren für soziale Themen engagiert, geht nach Chicago, um dort für eine gemeinnützige Organisation in Brennpunkt-Schulen zu unterrichten.
Zur Aktivistin in nur ein paar Seiten
The Female Persuasion spricht viele Themen an: Es geht um die Suche nach der eigenen Identität, um Feminismus und Gleichberechtigung, um die Schwierigkeit, ein perfektes Vorbild zu haben, darum, dass man oft nicht die richtige Entscheidung treffen kann. Greer himmelt ihre Chefin Faith Frank an – bis es bei Loci einen Vorfall gibt, nach dem für Greer nichts mehr so ist wie vorher und sie sich enttäuscht von Faith abwendet. Es geht also auch um die Beziehungen von Frauen untereinander: Eigentlich wäre die aktivistische Zee die perfekte Kandidatin für eine Stiftung wie Loci. Doch den Bewerbungsbrief, den Zee an Faith Frank schreibt, gibt Greer nie weiter, aus Angst, Fait dann mit ihrer besten Freundin teilen zu müssen.
Meg Wolitzer schafft es sehr gut, die Komplexität und Dynamik dieser verschiedenen Beziehungen darzustellen, spürbar zu machen. Was ihr weniger gut gelingt, ist, gerade am Anfang, die Darstellung von Greers Wandel. Gefühlt wird Greer innerhalb von nur ein paar Seiten von einer eher passiven Person zur feministischen Aktivistin – das Auftauchen von Faith Frank fühlt sich ein bisschen wie ein Deus ex machina-Augenblick an. Danach, das erfährt man als Leser*in, ist für Greer alles anders. Warum genau das so ist, allerdings nicht. Das liegt auch daran, dass Wolitzer oft sehr vage bleibt, wenn es um Faith Franks feministische Positionen oder die Inhalte ihrer Reden geht. Als Greer bei ihrem ersten Treffen mit Faith danach fragt, wie sie und die anderen Studentinnen damit umgehen sollen, dass der Grabscher mit einer milden Strafe davonkommt und wie sie generell gegen Sexismus und Frauenhass kämpfen sollen, antwortet Faith: „So what should you do? I don’t know the circumstances here, but I know that you and your friends should definitely keep the conversation going.“ Es erscheint kaum realistisch, das seine dermaßen vage Antwort bei einer jungen Frau ein feministisches Erweckungserlebnis auslöst.
An einigen Stellen im Buch erwähnen sowohl Greer als auch Faith Kritik an Loci und dessen Funktionsweise – aber stets wird diese Kritik nur indirekt erwähnt, als etwas, das irgendwo geschrieben oder gehört wurde: „Loci was doing good business and naturally people were writing things on Twitter like #whiteladyfeminism and #richladies, and the hashtag that for some reason irritated Faith most, #fingersandwichfeminism.“ Es bleibt unklar, was Wolitzers Absicht dahinter ist: Möchte sie die geäußerte Kritik als legitime Kritik an Faith Frank und ihrer Art von Feminismus – weiß, privilegiert, mittelschichtig – verstanden wissen? Oder soll man als Leser*in doch eher Sympathie für Greer und Faith empfinden, die „Opfer“ dieser Kritik?
Die Bereitschaft zum Kompromiss
Explizit fragt Wolitzer danach, inwiefern es möglich ist, Wandel aus dem bestehenden System heraus zu generieren. Sie fragt auch danach, welche Kompromisse man einzugehen bereit ist, um ein politisches oder persönliches Ziel zu erreichen. Und welche dieser Kompromiss zu weit gehen und warum. Was The Female Persuasion begriffen hat, ist: Es gibt in den meisten Fällen keinen „richtigen“ Weg, feministisch zu handeln. Greer und Faith wollen beide das Beste und treffen doch fragwürdige, sogar unfeministische Entscheidungen.
Trotz seiner Schwächen ist das Buch sehr lesenswert: Wie kaum eine andere beherrscht Meg Wolitzer die Fähigkeit, Handlungsstränge und Charaktere über einen längeren Zeitraum zu verfolgen, sie wachsen zu lassen und den Eindruck zu vermitteln, es würde tatsächliche Lebenszeit vergehen. Eine weitere erzählerische Stärke sind die verschiedenen Perspektiven: The Female Persuasion wird aus der Sicht von Greer, Faith, Cory, Zee und dem Risikokapitalgeber von Loci, Emmett Shrader, erzählt, was dem Ganzen Vielschichtigkeit gibt (auch wenn Faiths und Shraders Kapitel die schwächsten im ganzen Buch sind). Am Ende bleibt die Erkenntnis: The Female Persuasion mag nicht das neue Great American Novel™ sein und auch nicht der Roman der MeToo-Ära – aber das Buch wirft wichtige Fragen auf, beweist die große erzählerische Macht seiner Verfasserin und macht Mut. Mut, die Dinge nicht so hinzunehmen, wie sie sind. Mut, die eigene Wut und Verunsicherung zu nehmen, und sie für etwas Gutes zu nutzen. Immer mit dem Risiko, auch mal danebenzuliegen.