Ursprünglich kommt sie vom Niederrhein, für ihr Studium zog es Kirsten Becken ins Ruhrgebiet, an die Essener Folkwang Universität der Künste und zuletzt lebte sie drei Jahre in München. Heute arbeitet sie als Fotografin und Künstlerin, ihr Portfolio reicht von Modestrecken über Editorials bis hin zu Portraitfotografie. Im letzten Jahr veröffentlichte Kirsten ein sehr persönliches Projekt – ein Projekt, das Mut uns machen soll genauer hinzuschauen: Das Kunstbuch Seeing Her Ghosts ist ein offener Dialog über seelische Verletzungen in Familien, über Unausgesprochenes und Verdrängtes. Es ist die Geschichte von Kirstens Mutter, intim und nah. Gleichzeitig hat die Geschichte einen universelleren Charakter, behandelt das Thema seelische Verletzungen und Wunden im gesellschaftlichen Kontext und betrifft uns alle. Im Interview erzählt Kirsten, wie das Buchprojekt das Trauma ihrer Mutter für sie sichtbar gemacht hat und was sich beim Umgang mit seelischen Krankheiten generell ändern sollte.
Kirsten, in Seeing Her Ghosts setzt du dich mit deiner Mutter auseinander. Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Die Idee kam mir, als ich gemeinsam mit meinem Sohn Tom, der damals nicht mal ein Jahr alt war, bei meinen Eltern die kleinformatigen Aquarelle meiner Mutter auslegte. Mein eigenes Muttersein löste völlig neue Fragen aus und ich hatte plötzlich das innere Bedürfnis Nachforschungen anzustellen, um die Geschichte meiner Mutter besser zu verstehen.
Welche Geschichte ist das?
Ich wollte wissen, wieso es zu ihrem Suizidversuch und den psychotischen Schüben kam und welche Auslöser sie an den Rand der Verzweiflung getrieben haben. Alle Jahre zuvor habe ich ihre Krisen und den eisernen Kampf, auch besonders in Bezug auf Psychopharmaka, beobachtet und hatte dabei immer ein flaues Gefühl. Die Begründungen, die mir von ihrer Familie als glaubwürdige Geschichte vermittelt wurden, konnte ich nie wirklich nachvollziehen.
Inwiefern?
Es hat immer Tiefgang gefehlt und viel wurde mit einem vorwurfsvollen Unterton erzählt. So, als wäre die ganze Geschichte ein Dorn im Auge der Familie. Trotzdem habe mich erst viele Jahre später, als ich selbst Mutter wurde, in meine Mutter hineinversetzen können und einen echten Perspektivwechsel erlebt.
Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt schreibt in ihrem einleitenden Kommentar: „In der Eile, der Eile zu erklären, zu diagnostizieren, zu behandeln, geraten die individuellen Dramen, das einzigartige Narrativ der Betroffenen, zumeist in den Hintergrund. Kein Mensch ist seine Diagnose und kein gefühlter, subjektiver Zustand kann auf die technischen Informationen eines MRT-Scans reduziert werden.“ Wieso hast Du diese einleitenden Worte gewählt?
Kein Mensch ist eine Diagnose. Siri Hustvedt hilft mit ihrem Kommentar dabei, das Dilemma seelischer Verletzungen besser zu verstehen und beschreibt die Überforderung, die bei einer akuten Krise herrscht. Sie weist aber auch auf die individuelle Geschichte, das Drama hin, welches eine solche Wunde erst entstehen lässt. Paul Hammersley bespricht danach seine Erfahrungen als Psychotherapeut und kritisiert den Zustand der klassischen Psychiatrie. Er warnt davor, seelische Wunden durch die Verabreichung von Psychopharmaka heilen zu wollen und führt die Leser*innen behutsam an den Kern des Buches heran: Missbrauch in der frühesten Kindheit ist als Auslöser für Psychosen und Stimmenhören verantwortlich.
Seeing Her Ghosts ist eine College aus privaten Fotos, mal eher theoretischen, mal persönlichen Texten, Poesie und Kunstwerken. Hattest du sofort eine visuelle Vision davon, wie das Buch aussehen soll – oder hat sich das beim Gestalten eher spontan ergeben?
Ich habe bewusst Bilder und Texte gemischt, damit der dichte Inhalt leichter vermittelt werden kann. Mir war wichtig, Texte und Bilder von bekannten und unbekannten Künstler*innen zu mischen um einen demokratischen, offenen Zugang zu schaffen. Es sollte keine verschlüsselte Blase entstehen, die missverstanden wird – sondern ein starkes, gefühlsgewaltiges Buch, das viele anspricht und unterschiedlichste Ankerpunkte bietet.
Private Fotos sind eine Hommage an meine Mutter und meine Kindheit und die Liebe meiner Eltern, die mir so wichtig sind. Die schwere Zeit, die wir als Familie durchgestanden haben soll anderen Mut machen. Außerdem wollte ich mit den Abbildungen meiner Mutter ihre natürliche Schönheit festhalten, die sie in meinen Augen nie verloren hat.
In Seeing Her Ghosts finden sich neben Siri Hustvedt zahlreiche weitere interessante Autor*innen und Künstler*innen. Wie hast du diese ausgewählt?
Die Auswahl habe ich gemeinsam mit meiner Mutter gemacht. Einige meiner Lieblinge sind natürlich dabei, zum Beispiel David Shrigley oder Andrew Solomon, der das wunderbare Buch Weit vom Stamm geschrieben hat, das mir empfohlen wurde. Aber auch Künstler*innen, die ich bisher gar nicht kannte, zum Beispiel Sophia oder Maayan. Ich wollte bestimmte Themen, die mir bei meiner Recherche und Ursachenforschung sehr geholfen haben, abdecken und habe zum Beispiel Bessel van der Kolk angefragt, der sein Buch Verkörperter Schrecken über Traumaheilung herausgegeben hat. Es trägt einen großen Teil dazu bei, der Gesellschaft Trauma bewusster zu machen und die schicksalhaften Verkettungen von Kriegstraumata und unbewussten Mustern in Erinnerung zu rufen. So ist es auch mit Bettina Alberti’s Buch Seelische Trümmer: Geboren in den 50er- und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas, aus dem ich einen Auszug veröffentlichen durfte.
Du hast das Projekt über die Crowdfunding-Plattform Startnext finanziert. Warst du überrascht über das Interesse an dem Projekt und die damit einhergehende Unterstützung?
Mir war klar, dass das klappt. Denn es ist ja so, dass wirklich jeder mindestens eine Geschichte aus dem engsten oder entfernten Familienkreis erzählen kann, die der Geschichte meiner Mutter gleicht. Psychose und Stimmenhören sind weit verbreitet, aber immer noch abstrakt und fremd. Deshalb gibt es ein großes Bedürfnis nach Klärung und Austausch. Es wird Zeit, dass endlich offen über all diese Dinge gesprochen wird. Besonders auch, weil die gängigen Behandlungsweisen mit Psychopharmaka so zerstörerisch sind. Während meiner Crowdfunding-Phase hatte ich Kontakt zu Peter Lehmann, der mit seinem Antipsychiatrieverlag einen wesentlichen Anstoß in die richtige Richtung gegeben hat. Später hat er mich beim Kongress der WPA (World Psychiatric Association) in Berlin vorgeschlagen und ich konnte dort Seeing Her Ghosts vorstellen.
Das Buch ist auf eine sehr liebevolle Art gestaltet, man merkt, dass deine Mutter ein sehr wichtiger Mensch für dich ist. Wie zeigt sich die Person deiner Mutter konkret im Buch?
Mutterliebe ist existentiell, weil diese Liebe ein Bündnis darstellt und das ganze Leben prägt. Meine Mutter ist eine hochsensible, einfühlsame Frau, die immer ein offenes Ohr hat und vorausschauend und versorgend ist. Der weiße, beschichtete Leineneinband zeigt ihre Kraft und Verletzlichkeit zugleich. Das Motiv auf dem Einband zeigt eine Skizze aus einem Kliniktagebuch. Zwei zerfließende Figuren, die in einer durchgängigen Linie gezeichnet sind und an Engel erinnern. Ich mag daran sehr, dass es ein wenig an Les Fleurs Du Mal von Charles Baudelaire erinnert.
Die äußere Gestaltung des Buchs ist also sehr bewusst gewählt.
Genau. Aber für mich war klar, dass ich unsere Mutter-Tochter-Beziehung nicht nur in der Art und Weise vermitteln will, mit der ich das Buch äußerlich gestalte, sondern auch in einer fotografischen Arbeit. Ich habe eine Fotoserie umgesetzt, die die Aquarelle meiner Mutter mit Protagonist*innen verkörpert. Dieses visuelle Zwiegespräch bildet den Grundstein zu Seeing Her Ghosts.
Du schreibst: „Jede Geschichte hat zwei Seiten, aber einigen Geschichten fehlen ganze Kapitel“. Welche Kapitel konntest du der Geschichte der Krankheit deiner Mutter, eurer Geschichte, hinzufügen?
Bei der Arbeit am Buch kam ich wirklich unerwartet dem tatsächlichen Auslöser der Psychose meiner Mutter auf die Spur. Die intensive Recherche, das Wälzen der Fotoalben, viele Gespräche mit meinen Eltern, Traumbilder und Tagebücher haben mir die eigentliche Geschichte meiner Mutter im Nachhinein erzählt und neue Zusammenhänge gezeigt.
Welche Zusammenhänge waren das?
Sie wurde von ihrem Vater im frühen Kindesalter missbraucht und ihre Familie schwieg sich aus. Einige Gespräche mit ihren Geschwistern erscheinen mir heutzutage in einem völlig neuen Licht. Missbrauch ist ein schmerzhaftes Puzzle und mir ist bis heute nicht klar, wie dieser Übergriff am eigenen Kind von meiner Großmutter ertragen werden konnte – noch dazu, wie sie eine solche Ehe führen, den Zwang, Druck und die dysfunktionalen Strukturen kultivieren konnte. Natürlich waren es andere Zeiten, Anfang der 1950er, und dieses Muster war sehr verbreitet, nur keiner spricht darüber, weil es eben ein Verbrechen ist. Und dieses Verbrechen deckt viele Jahre eine falsche Diagnose und lässt das eigentliche Opfer schweigen, um die Familie zu schützen, nur damit es dann nochmals durch die Psychiatrie traumatisiert wird.
Hat das Projekt dir tatsächlich dabei geholfen, die „Geister“ oder „Gespenster“ deiner Mutter zu sehen? Hat es eure Beziehung beeinflusst – sogar verändert?
Meine Mutter ist seit der Erkenntnis – die mittlerweile auch durch ihre eigenen Kinderzeichnungen in einem Buch, das wir beim Entrümpeln des ehemaligen Elternhauses gefunden haben, bestätigt wurde – bestärkt und erleichtert. Man muss sich vorstellen, dass ihr jahrelang von allen Beteiligten eine andere Wahrheit vorgemacht wurde. Sie wurde nicht gehört, selbst als sie offen über ihre Ängste sprach. Stattdessen wurde sie mit 21 Jahren ohne Psychotherapie direkt mit Haldol (ein starkes Medikament zur Behandlung akuter und chronischer schizophrener Syndrome, Anm.) medikamentiert. Diese Energieblockade, die natürlich immer noch durch ihre Medikamente gedämpft wird, ist weg. Sie fühlt sich gut, befreit, ist dankbar. Wir alle, mein Vater und ich, sind dankbar für die Klarheit. Es ist eine bleierne Erkenntnis, die aber Raum für Neues schafft und Heilung erst möglich macht.
Hast du den Eindruck, dass seelische Leiden heute akzeptierter sind als noch vor ein paar Jahren? Dass sie weniger stigmatisiert werden?
Die meisten tun seelische Leiden wie Depressionen oder Psychosen ab. Sie assoziieren mit einer Psychose oft Menschen, die auf Drogen hängen geblieben sind und/oder ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Der allgemeine Ton und die gesellschaftliche Empathie haben sehr gelitten – besonders heutzutage habe ich oft das Gefühl, dass jeder an sich selbst denkt. Es kommt nicht oft vor, dass sich tiefere Gespräche entwickeln. Viel lieber hält jeder seine Schäfchen im Trockenen. Und man muss immer zuerst die Hose runter lassen, bis das Gegenüber nachzieht. Aber daran kann man ja arbeiten.
Was würdest du dir wünschen, was sich im gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Krankheiten ändern soll – beziehungsweise muss?
Es wäre toll, wenn es eine größere Bereitschaft dazu gäbe, Krisen radikal ehrlich zu hinterfragen, umzukrempeln und diese Konsequenzen für das eigene Selbst zuzulassen. Niemand ist normal oder unfehlbar. Schön wäre auch, wenn man davon ausgehen würde, dass „jeder ein Päckchen zu tragen hat“ und die Dinge nicht besser werden, wenn man sie totschweigt. Aus aktuellem Anlass kann man die merkwürdige Stille gegenüber dem Massensterben auf dem Mittelmeer heranziehen, die ein stark beklemmendes Gefühl erzeugt. Ein offener, produktiver Dialog ist immer wünschenswert.
Seeing Her Ghosts ist beim Verlag mittlerweile vergriffen. Wer Glück hat, ergattert bei Amazon vielleicht noch eines der letzten Exemplare. Am 13. Juli eröffnet in München in der Lothringer 13 die zweite Gruppenausstellung zu Seeing Her Ghosts. Los geht’s um 19 Uhr!