#C2708. Was gestern passiert ist, wissen wir. Nur wie damit umgehen? Mit all den Nazis, die da in Chemnitz durch die Straßen liefen, Menschen jagten, brüllten, prügelten und sich schlussendlich selbst entlarvten, indem sie ihre hässlichste Fratze, ihr Innerstes zeigten. Nein, das sind keine besorgten Bürgerinnen und Bürger. Keine politisch Rechten. Das sind menschenverachtende Hetzer, die sich pudelwohl in ihrer Rolle der vermeintlichen Retter unseres Landes fühlen. Die stolz in Kameras, aber auch in die Gesichter der angeblichen Lügenpresse blicken, um die Welt mit ihrem nationalsozialistischen Gedankengut zu vergiften. Die sich nicht schämen für das was sie sind, NAZIS nämlich, ja Herr Wöller. Solche, die sich für jede Diffamierung anderer Kulturen, Religionen und Hautfarben unzählige Gründe herbei phantasieren.
Solche, die im Realkontext tatsächlich noch nicht einmal mit „diesen Anderen“, die sie für so wertlos halten, in Berührung kommen. Für die Begriffe wie Differenzierung und Genauigkeit überflüssige Fremdwörter bleiben. Die sich stattdessen das Objekt ihres Hasses zurechtrücken, vielleicht auch, um sich selbst nicht hassen zu müssen. Weil es leichter ist, die Verantwortlichkeit für das eigene Elend munter auszulagern, statt dessen Ursprung in der eigenen Existenz zu suchen. Weil man sich im Kollektiv so herrlich stark fühlen kann, so unantastbar. Am Samstag soll es deshalb ab 17 Uhr einen „Schweigemarsch“ durch Chemnitz geben, „um gemeinsam um Daniel H. und alle Toten der Zwangsmultikulturalisierung Deutschlands zu trauern“, wie in aller Selbstverständlichkeit auf der Facebook-Seite der AfD Sachsen verkündet wird. Beim Lesen solch ekelerregender Zeilen weiß ich weder weiter, noch was wir tun können. Nur dass wir irgendetwas tun müssen. Dass einige von uns endlich Abstand nehmen sollten von ihrem privilegierten Gehabe des politischen Desinteresses. Mit Rechten reden, auch öffentlich? Jein. Denn einerseits hat die Praxis längst bewiesen, dass jede Bühne, die diesen zum Teil verstörend besonnenen Himmelshunden erlaubt wird, als Triumph funktioniert, dass jeder Auftritt in großen Medien mit Beifall aus der Szene überschüttet wird. Mehr kommt dabei meist nicht heraus, weder Einsicht, noch Empathie. Andererseits kann Ignoranz dazu führen, dass alles nur noch schlimmer wird. Für alle, die in einem Land der vielen Freiheiten leben wollen und das vor allem ohne Angst. Weil sich die „Vergessenen“ zunehmend wie die Tiere zusammen ferchen, um gehört zu werden und gesehen, um gemeinsam das Wild zur Strecke zu bringen. Die Ausländer zum Beispiel.
„L’enfer c’est les autres“. Die Hölle, das sind die anderen, schrieb Sartre einst. Blöd nur, wenn die, die geradewegs aus der Hölle kommen, um endlich Frieden zu finden, plötzlich selbst zu Teufeln degradiert werden. Wenn die eigentlichen Querulanten blind werden für das eigene destruktive Verhalten, dafür, dass sie allein die Pest einschleusen. Indem sie den Abfall längst vergangener Jahre beackern und ihn auf den Straßen verteilen. Nur wer kehrt die Scheiße, die eigentlich vorher schon hätte zurückgehalten werden müssen, im Anschluss wieder weg? Unsere Bundeskanzlerin wohl nicht. Ebenso wenig der Rechtsstaat, der binnen eines Tages zu einem Sinnbild der Handlungsunfähigkeit verkommen ist, schon wieder.
Werden die Nazis denn überhaupt je erfahren, wie falsch sie liegen? Dass sie sich vertan haben, auf jede nur erdenkliche Art und Weise? Gestern jedenfalls hat sich ihnen kaum jemand entgegengestellt. Niemand, der überhaupt in der Lage dazu wäre, scheint noch ausreichend Energie oder gar Mut und Wille gegen Rechts aufzubringen. Oder noch schlimmer: Sympathisiert die Exekutive mancherorts womöglich sogar mit den Braunen? Denkbar und indes beinahe belegt. Weil Nazis inzwischen geduldet und beschützt werden, aber nicht bekämpft – im Gegensatz zum „linken Pack“ für dessen Bändigung Hunderttausende ausgegeben wurden und werden. Weil sie dürfen, was sie da taten und tun, diese ach so besorgten Deutschen: Andere schlagen und jagen, ohne festgenommen zu werden etwa. Den Hitlergruß zeigen. Menschenrechtsverachtende Parolen speien und verbale Misshandlungen. Nein, nichts ist da erstmal passiert. Weil Zusehen viel einfacher ist? Ginge es um Affen im Zoo, meinetwegen. Aber diese hier sind längst ausgebrochen aus ihrer Komfortzone, sie leiden an überschäumender geistiger Tollwut, haben sich anstecken lassen, agieren wie im Wahn und voller Überzeugung, sind außer Rand und Band und haben es dennoch oder gerade deshalb geschafft, für einen Moment lang eine Großstadt einzunehmen. Bloß wer fängt sie wieder ein? Wer gibt diesen Bürgerinnen und Bürgern, was sie brauchen – um wieder zu genesen? Oder ist es schon unheilbar?
Selten habe ich mich so machtlos gefühlt, so gefangen in meinem linksliberalen sozialen Milieu, das geschlossen an eine gleichberechtigte Zukunft glaubt. Ich bin traurig und ich schäme mich. Wie heute Morgen, als ich mir am Späti eine Zeitung kaufte und erstmal vorbei musste an all den Titelseiten. Vorbei an dem türkischen Besitzer des kleinen Ladens, der mich tagtäglich fragt, ob es mir gut geht. Heute fiel es mir schwer, ihm in die Augen zu sehen. Wir schauten uns beide etwas verlegen an, auch bestürzt, ich schüttelte mit dem Kopf und flüsterte, dass es mir leid tue. Dann weinten wir zusammen. Er, weil er Angst hat, sogar in unserem bunten Berlin. Ich aus Wut. Was können wir überhaupt noch tun? Nicht viel? Oder alles? Wir müssen auf die Straßen dieses Landes gehen, laut werden, auch im Tennisclub Pins mit der Aufschrift „Nazis raus“ am Kragen tragen, nicht mehr still und selbstredend unrassistisch vor uns hin dümpeln, sondern uns laut und proaktiv Anti-rassistisch zeigen. Wir müssen die Schulen einbeziehen und wenn nötig Emilia Galotti durch Carolin Emckes „Gegen den Hass“ ersetzen, wenn man mich fragt. Wir müssen überhaupt einen Schritt weiter gehen. Die Politik muss endlich, endlich damit aufhören, Probleme wie jene in Sachsen totzuschweigen, aus Angst vor Image-Schäden etwa, und sie stattdessen in aller Deutlichkeit benennen und bekämpfen. Denn das Schweigen über Missstände und Sorgen und über Pegida und die AfD hat am Ende womöglich erst dazu geführt, dass sich die Nazis in ihrem Chemniz und auch überall sonst mittlerweile so sau sicher fühlen können. So „in der Mitte der Gesellschaft“.
Und was machen derweil eigentlich all die Politiker und Politikerinnen? Häufig twittern, meistens aber gar nichts. Und was passiert mit denen, die am ärgsten leiden? Wäre es nicht klüger, Flüchtlinge viel vehementer von Behörden unterstützen zu lassen? Sie offensiver zu integrieren, beispielsweise indem sie überall in den Städten leben dürften, in Häusern und WGs, anstatt in kleinen Wohnheimen irgendwo an den Rändern der Gesellschaft? Warum geht das nicht viel häufiger? Sollten wir nicht alle Menschen, die mit uns Seite an Seite leben wollen, mit Liebe überhäufen? Und auch Chemnitz? Sogar Nazis kuscheln, damit sie ihre Herzen und Hirne wieder spüren? Das wäre doch mal was.
Nein, im Ernst. Keine Ahnung, was jetzt richtig und logisch und hilfreich sein könnte. Eigentlich weiß ich gerade nur, was richtig falsch wäre: Sprachlos sein oder bleiben. Macht den Mund auf, immer und immer wieder. Zeigt allen um euch herum, dass sie willkommen sind. Und geht hin, wenn ihr gebraucht werdet. Vor der Demo ist nach der Demo, denn: Mein Name ist Mensch. Und deiner auch.