Ein ernstgemeiner Satz: Deutschland brennt in manchen Teilen lichterloh. „Haltet die Welt an, es fehlt ein Stück“, sang Cassandra Steen 2005. Ein Satz, der heute das Gefühl vieler Deutscher passender denn je beschreibt. Wie soll es eigentlich weitergehen in einem Land, das in Anbetracht des Bösen innenpolitisch unbeeindruckter kaum agieren könnte? Ohne Umschweife lässt sich sagen: Menschen sind in Gefahr, viele haben Angst. Die einen um die Demokratie und die anderen um ihre Sicherheit. Denn da, wo man Rechtsextremismus nicht konkret benennt und Hitlergrüße vor vorgehaltener Hand diskutiert, sitzt etwas verdammt tief. Ein ekliger brauner Holzsplitter. Wir haben ein Problem, das nicht neu ist, nicht allein ostdeutsch und sich nicht allein mit der AFD begründen lässt. Aber eines, das endlich ganz offen und endlos diskutiert und im besten Fall komplett behoben werden muss.
Meine Familie hat sich zuletzt verstärkt gefragt, was eigentlich genau mein Job ist und was ich in dem überhaupt so regelmäßig fabriziere. Es war also an der Zeit, ihnen eine Brandmail zu verfassen, weil, und das kann mit vollkommener Überzeugung behauptet werden, die innenpolitische Lage für mich noch nie so bedrohlich erschien, wie jetzt. „Hiermit erkläre ich wofür ich einstehe“, war der Betreff. Die darauffolgenden Zeilen ließen keinen Zweifel zu: Es folgten links zu meinen Kolumnen, die versuchen, Diskriminierung im Kern zu ersticken. Aber: Ist das überhaupt der richtige Einstieg für einen antirassistischen Diskurs?
Die Frage ist also, was man unternehmen sollte, wenn, so wie Cassandra es leidvoll ins Mikrofon singt, ein Stück verloren gegangen scheint. Ein Stück Toleranz hier, ein Stück Mitgefühl da, ein Stück Willen für eine mögliche und wertvolle interkulturelle Gemeinschaft in diesem Land. Urplötzlich steht man da: Wir müssen jetzt handeln. Sonst wird es unangenehm(er).
So weit so bescheiden. Wir brauchen einen nachhaltigen antirassistischen Konsens, der Menschen dazu bringt, umzudenken, implementierte Rassismen zu hinterfragen, sich wieder zu öffnen und nationalistischen Stigmata den Rücken zu kehren. Farbe bekennen, Gesicht zeigen und in den Diskurs treten. Wenn nicht jetzt, wann dann? Und trotzdem ist die Zeit immer zu knapp und das Wetter immer zu schlecht, um auf die Straße zu gehen. Man kann #WIRSINDMEHR kritisch hinterfragen und sollte es sogar, jedoch ist ein vollkommenes abtun der Bewegung ein Problem und führt zu Verdruss auf Seiten derer, die sich Zeit ihres Lebens bis dahin wohl möglich noch nie politisch positioniert haben. Und dennoch; den eigenen Anspruch herunterzuschrauben an politische Maxime scheint auch nicht der richtige Ansatz zu sein. Es ist kompliziert. Aber nicht aussichtslos.
Wie sich der Rassismus modernisiert hatAndreas Beckmann – Deutschlandfunk Rassistische Sprache – Was ist das?Amnesty International Transkulturalität und die Aufgabe politischer BildungsarbeitMaureen Maisha Eggers Schon wieder Holocaust? Antisemitismus in SchulenElisabeth Kagermeier
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The Big Hole in Germany’s Nazi Reckoning? Its Colonial HistoryJohn Eligon – New York Times Understanding White PrivilegeFrancis E. Kendall Islamophobie: Der falsche FeindAndreas Backhaus – Zeit Online Die Angst vor dem AnderenZygmund Baumann – eine Zusammenfassung |
Jetzt sollte es dämmern, warum es so wichtig ist, sich auseinanderzusetzen mit Stereotypen und Alltagsrassismus, mit Vorurteilen gegenüber denen, die anders aussehen oder anders sprechen, anders glauben oder anders leben. Seien es Debatten über den Karneval oder über Schaumküsse. Die Reflexion der eigenen rassistischen Sozialisation ist der Grundstein für die alltägliche politische Arbeit, die zu leisten ist. Sie beginnt beim Aufschlagen der Boulevardzeitung und hört bei der Tagesschau auf, sobald Susanne Daubner von „gejagten Ausländern“ spricht. Auf einmal wird nämlich alles wichtig, und am meisten der Wille zum kritischen Hinterfragen und der eigenen Weiterbildung. Für den Nächsten, der beim Grillen auf seine rote Grillsauce besteht, damit der Konter richtig sitzt. Und die Diskussion konstruktiv bleibt.
Und während wir nicht bei allen im Detail anfangen können, scheint ein aufeinander zugehen wichtiger denn je. Mit Nazis streite ich nicht, aber fangen wir doch mit dem wütenden Opa im Bus an, der missbilligend die arabisch sprechende Familie begutachtet oder der Auseinandersetzung, in der man sich auf offener Straße mit der richtigen Seite solidarisiert. „Take their Hand“. Die Kelly Family hat schon immer genervt, aber mit „Take my Hand, you are my sister“, hatten sie recht. Es gibt Menschen, die Hilfe brauchen, Menschen, die auf die privilegierten Stimmen dieses Landes angewiesen sind. Auf eine Soli-Party auf der alle tanzen. Außer Nazis eben.
Nazis und der innere Schweinehund. Zwei Gegner, die weit hinter uns im Abseits zurückgelassen werden müssen. Statt des one on one im Pausenhof empfiehlt sich ein offenes Ohr für die ringsumstehenden, ein Platz für ihre Geschichten. Die Frage ins Innere, wie der eigene Alltag politischer zu gestalten ist. Wann man das nächste Mal mit allen Freunden, Schildern und Seifenblasen im Gepäck auf die Straßen gehen kann, wie man zeitlich in die persönliche politische Weiterbildung investiert oder wie sich sogar Instagram zu einem inklusiveren und politischeren Plätzchen Internet gestalten lässt. Achtung Achtung: Es handelt sich nicht um eine Option #METWO, #CHEMNITZ, #NSU und all die anderen Hashtags der Schande nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Es handelt sich um eine Pflicht.