Eigentlich führt Erika Gerlach (Anna Schudt) ein schönes Leben: Sie hat drei gesunde Kinder, einen Mann, der auch mal spontan mit ihr durchs Haus tanzt, ihre Arbeit im Familienbetrieb, der Metzgerei. Dass dieses Leben Erika aber jeden Tag an den Rand ihrer Kräfte bringt, zeigt sich, als sie schwanger wird. „Eins mehr oder weniger spielt in einem Metzger-Haushalt doch keine Rolle“, verkündet der Arzt beim Anblick von Erikas versteinertem Gesicht ob seiner vermeintlich frohen Botschaft. „Ich will aber nicht mehr“, sagt Erika und man ahnt, dass sie damit nicht nur die Schwangerschaft meint. Doch wollen oder nicht spielt hier keine Rolle: Es ist 1971, Erika wohnt auf dem Land, Schwangerschaftsabbrüche sind illegal. Welche Wahl hat sie also?
Mit Aufbruch in die Freiheit haben sich das ZDF und Regisseurin Isabel Kleefeld (nach einem Buch von Andrea Stoll, Heike Fink und Ruth Olshan) ein auch 2018 – wieder – aktuelles Thema vorgenommen: Abtreibung. Der Film spielt zu einer Zeit, als Frauen, die abtrieben, laut Paragraf 218 des Strafgesetzbuches mehrjährige Gefängnisstrafen drohten. Erst 1974 beschloss der Bundestag mit knapper Mehrheit die Fristenregelung, die aber 1975 vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Die auch heute noch gültige Indikationsregelung wurde 1976 beschlossen.
Leben in warmen Retro-Farben
Für Erika Gerlach geht es nicht nur um die ungewollte Schwangerschaft, es geht um so viel mehr: Darum, dass ihr Mann Kurt (Christian Erdmann) von Verhütungsmitteln nichts hält, dadurch am Ende aber natürlich Erika die Leidtragende ist. Darum, dass Erika nicht nur in der Metzgerei schuftet, sondern auch für Kindererziehung und Haushalt zuständig ist. Darum, dass Kurt der ältesten Tochter, der 15-jährigen Ulrike (Lena Oderich), trotz brillanter Noten den Besuch des Gymnasiums verweigert und sie stattdessen lieber als Auszubildende in der Metzgerei sehen will. Die Kamera taucht Erikas Leben in warme Retro-Farben, die in starkem Kontrast stehen zu dem Drama, das sich hinter der stets beherrschten und um Heiterkeit bemühten Miene der dreifachen Mutter abspielt.
Erika entscheidet sich für eine heimliche Abtreibung im nahe gelegenen Köln und klaut dafür Geld aus der Familienkasse. „Bitte versuchen Sie, sich zu entspannen“, sagt der Arzt, begleitet von den Geräuschen der Ausschabung. Doch die Abtreibung geht schief, Erika hat starke Blutungen, kommt ins Krankenhaus und kann nur durch eine Not-OP gerettet werden. Krankenschwester Gabi (Franziska Hartmann) warnt: „Wenn jemand fragt, hatten Sie einfach starke Schmerzen im Unterleib“. Gabi ist eine Freundin von Erikas Schwester Charlotte (Alwara Höfels), die als freigeistige Journalistin in Köln lebt und mit Erikas Spießeralbtraum von einem Leben so gar nichts anfangen kann. Charlotte wohnt in einer WG, hat wechselnde Liebhaber und macht bei einer Kampagne für die Streichung des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches mit. Bei ihr kommen Erika und ihre Kinder unter, als Erika realisiert, dass Kurt sehr wohl von ihrer Abtreibung wusste – aber sie lieber ihr Leben riskieren ließ, als offen mit ihr darüber zu sprechen.
Völlige Abhängigkeit
Der Schritt in die Unabhängigkeit, das merkt Erika schnell, ist nicht einfach: Sie ist völlig abhängig von Kurt. Sie verdient kein eigenes Geld, darf ohne die Einwilligung ihres Ehemanns weder einen Miet- noch einen Arbeitsvertrag unterschreiben oder ihre Kinder in der Schule anmelden. Langsam aber sicher baut Erika sich dennoch ein neues Leben in Köln auf, engagiert sich zusammen mit ihrer Schwester in der Frauenbewegung – und wird von Kurt auf Kindesentzug verklagt.
Aufbruch in die Freiheit erzählt die Geschichte einer schwierigen und in ihrer Konsequenz durchaus nicht zu hundert Prozent gelungenen Emanzipation. Dabei macht er vieles richtig: Anna Schudt und Alwara Höfels brillieren in ihren Rollen als ungleiche Schwestern und insbesondere Anna Schudts nuancierte Darstellung einer Frau, die zwischen der Liebe zu ihrer Familie und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben hin- und hergerissen ist, überzeugt. Klugerweise nimmt der Film das Thema Abtreibung als Ausgangspunkt, um grundsätzliche Konflikte und Probleme im Geschlechterverhältnis anzusprechen: Es geht um fehlende Wahlfreiheit, darum, keine wirklichen Entscheidungen für sich selber treffen zu können, um Abhängigkeit.
Große Geschichten im Kleinen
Um ein paar Klischees kommt der Film dabei leider nicht herum: Charlottes wildes Leben in der WG inklusive fehlender Klotür und politischen Diskussionen beim gemeinschaftlichen Pasta-Essen fühlt sich wie ein unnötig harter Kontrast zu Erikas Leben auf dem Dorf an – und schrammt an einigen Stellen nur knapp an der Karikatur vorbei. Genauso wie die Männerfiguren, allen voran Ehemann Kurt: Während ein paar Szenen darauf schließen lassen, dass Kurt mehr ist als die Summe seiner cholerischen Anfälle (Kurt zu Erika: „Ich wollte nie eine andere Frau haben als dich“), bleibt ihm am Ende nicht mehr als die Rolle des gekränkten und stets zu einem sexistischen Spruch bereiten Ehemannes. Manchmal traut der Film seinem Publikum zu wenig zu, will immer noch einen drauflegen: Als Erika von der Arzthelferin die Nummer eines Arztes erhält, der illegal Abtreibungen vornimmt, fährt die Kamera über Erikas blasses Gesicht. Schnitt, nächste Szene: Erika sieht mit angespannter Miene zu, wie ihr Mann das vom Schlachten übriggeblieben Blut auf dem Boden mit einem Wasserschlauch wegspritzt. Als ob das Publikum nicht auch so verstanden hätte, dass die Entscheidung, abzutreiben, Erika nicht leicht fällt.
Trotzdem ist Aufbruch in die Freiheit ein Film, den anzuschauen sich lohnt. Weil er starke Darstellerinnen hat und sich nicht für das große Gesellschaftspanorama entschieden hat, um seine Geschichte zu erzählen – sondern sich stattdessen auf die großen Geschichten im Kleinen konzentriert. Weil er an den richtigen Stellen oft leise statt laut ist. Und weil er zeigt, dass auch Emanzipation etwas Individuelles ist, etwas, das für jede*n anders aussieht.
Aufbruch in die Freiheit läuft ab dem 26. Oktober in der Mediathek.